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An der städtebaulich hervorragenden Stelle, an der die neue Straße die Brücke und den Hafen erreichte und von wo aus man umgekehrt in direkter Sicht geradewegs das zentrale Wahrzeichen der Stadt, den Stephansturm, sehen konnte, war es geradezu eine Notwendigkeit, ein eindrucksvolles Eingangsforum zu planen, einen der Metropole würdigen „Empfangssalon“ für alle, die sich der Stadt von dieser Seite her näherten. Die Bodenspekulation überschlug sich in phantastischen Plänen. Auf einem vom Donau-Regulierungs-Fonds erworbenen Gelände sollten bis hinüber zur Ausstellungsstraße 200 elegante Villen entstehen, die den Vergleich mit der Döblinger Cottage nicht zu scheuen brauchten. Der große Börsenkrach des Jahres 1873 aber zerstörte alle Träume. Geblieben ist nur die Auflage, daß alle Bauten entlang einer auf fünf Kilometer Länge den Strom in geraumer Entfernung begleitenden Straße Vorgärten aufzuweisen hätten, was zur Entstehung der „Vorgartenstraße“ führte. Für diese sowie für die RandstraBen ,,AusstellungsstraBe“ und „Venedigerau“ gilt diese Verfügung augenscheinlich noch heute. Der Platz an der Brücke aber, der heutige Mexikoplatz, entwickelte sich, bedingt durch den als Folge des Börsenzusammenbruchs von 1873 aufgetretenen Mangel an Baukapital, nur langsam. Von dem erträumten, den Ankommenden überwältigenden Empfangssalon blieb nur wenig. Zwar behielt der Platz sein gewaltiges Ausmaß von etwa 45.000 m? bei, doch nur an seiner Westseite entstanden vorerst, gegen die Innenstadt zu, ansehnliche Bauten. Ihnen folgten zögernd Häuser an seiner flußabwärts liegenden Begrenzung. Flußaufwärts blieb er lange Zeit unverbaut und wurde dort bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts von niedrigen Fabriksgebäuden gesäumt. Erst 1884 erhielt der Platz einen stolzen Namen. Mit Bezug auf die jenseits der Donau liegenden Schlachtfelder von 1809 wurde er nach Erzherzog Karl, dem Sieger von Aspern, benannt. Seine Häuser bildeten den Kern der Donaustadt, die sich erst um 1895, von ihm ausgehend, zu entwickeln begann. Hoffnungsfroh aber verband man schon früh das erst in Planung befindliche Viertel mit der Stadtmitte in der für die damalige Zeit modernsten Manier. In der Nähe des Platzes wurde 1896 eine große Straßenbahnremise mit 11 Geleisen erbaut, von wo aus man schon 1897 elektrisch betriebene Linien direkt ins Zentrum und rund um den Ring und den Kai führte. Als Endstationen am Donauufer dienten einerseits eine Schleife um den Rosenpark im nördlichen Teil des Platzes und anderseits eine weitere rund um den späteren Elderschhof am Ende der Ausstellungsstraße. Heute hat die U-Bahn die Straßenbahn ersetzt und an die Stelle der Remise traten in Ausweitung des Viertels vielgeschoßige Bauten. Nur eine letzte Halle steht noch aufrecht und dient dem Skateboard-Sport. So ändern sich die Zeiten und mit ihnen das Gesicht des Viertels. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aber entwickelte sich erst der Grundriß des neuen Stadtteils: Donaulauf, Ausstellungsstraße und Kronprinz-Rudolf-Straße gaben ihm die Dreiecksform vor, der sich das eingeschriebene Straßennetz anpassen mußte. Abseits der Häuserblöcke am Platz und an der Vorgartenstraße schritt die Verbauung nur langsam voran. Der Plan eines repräsentativen Stadtviertels mußte mangels ausreichender Finanzen aufgegeben werden; weite Teile des Gebietes behielten bis um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch den ursprünglichen Au-Charakter. So wurden zuerst nur an den Straßenkreuzungen „ergiebigere“ Eckhäuser gebaut, denn diese Grundstücke konnten zu 60 % (die anderen nur zu 30 %) genutzt werden. Daß dabei geräumige Baulücken besonders im 30 nördlichen Teil des Viertels offen blieben, ist noch heute zu erkennen: in sie wurden erst spät, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, umfangreiche Gemeindebauten, wie der Wachauerhof, der Lassallehof, der Radingerhof, die großen Bauten in der Ybbsstraße und der Wohlmuthof, gesetzt. Der Wachauerhof ist überhaupt einer der ersten Bauten, den die Gemeinde Wien im ganzen Stadtbereich errichtet hat; seine Räume werden an der Decke noch von Tragbalken, sogenannten „Dippelbäumen“, durchzogen. Diese sozial geplanten Bauten, rund um begrünte Höfe, mit Gemeinschaftseinrichtungen wie Waschküchen, Bäder und Kindergärten, stechen deutlich von den engwinkeligen Zinshäusern ab, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor allem im südlichen Teil des Viertels entlang der Stuwerstraße und in ihren Nebengassen errichtet worden waren. Vorerst, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, aber blieb der Gemeinde Wien innerhalb des sich nur langsam entwickelnden Stadtteils noch immer so viel Raum, daß sie in seiner Mitte ein Areal von der Größe des Mexikoplatzes zum neuen Standort des sogenannten „Reservegartens“ machen konnte, dessen Aufgabe es war, die frostanfälligen Pflanzen aus den Parkanlagen der ganzen Stadt, aber auch die Schwäne des Stadtparks, sicher aufzunehmen. Der Reservegarten war aus dem eng gewordenen 3. Bezirk hierher verlegt worden und ist inzwischen nach Hirschstätten weiter gewandert. An seiner Stelle stehen heute die vier großen Blöcke der Gemeindebauten Vorgartenstraße 158 — 164 (einer davon über dem Bett des Perschlingsbaches), der Vorgartenmarkt, dessen Hütten sich zuvor in langer Reihe entlang des Reservegartens erstreckt hatten, und neben einem weiträumigen Kindergarten das Gymnasium in der Wohlmutstraße. In die Engerthstraße (benannt nach einem Mitglied der Donauregulierungs-Kommission, wie die Wehlistraße nach einem anderen) wurde ein ansehnliches Kohlekraftwerk gestellt, das die Möglichkeit einer kurzen Zubringung von den Donaukähnen oder von den Kohlenhöfen des Nordbahnhofes nutzen konnte. Es wurde in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts niedergerissen und durch die Gemeindebauten Engerthstraße 193 bis 197 ersetzt. Die einzige namhafte Fabrik inmitten des Viertels, die Wiener Molkerei, wurde 1901 fertig gestellt und 1928 mit einer neuen, architektonisch wirksamen Fassade in der Molkereistraße versehen. Diese blieb auch nach der jüngst erfolgten Umwandlung des Betriebes in eine Fachhochschule erhalten. Sogar entlang der nobleren Vorgartenstraße war jenseits des späteren Wachauerhofes soviel Raum verblieben, daß die Monarchie hierher zwei Kasernen, die Albrechts- und die Wilhelmskaserne setzen konnte. Erstere wurde nach 1908 von einem der beiden neu gegründeten bosnischen Regimenter bezogen, gleichsam eine Vorwegnahme des späteren südslawischen Zuzuges in dieses Gebiet. Der Erzherzog-Karl-Platz an der Brücke aber wirkte inmitten des sich entwickelnden Stadtteils nicht imposant, sondern trotz frisch angelegter ausgedehnter Parkanlagen leer. Der ursprünglich flach angelegte Zugang zur ersten Reichsbrücke hatte ihn noch nicht zerschnitten und auch die Engerthstraße verlief damals noch durchgängig. So schien er größer zu sein als jetzt. Erst die Rampe, die beim Bau der jüngsten Brücke den Übergang der neuen U-Bahn über den Fluß ermöglichen soll, trennte den Platz in zwei räumlich gleiche, aber atmosphärisch völlig verschiedene Hälften, so daß man das Gefühl hat, sein flußaufwärts gelegener Teil gehöre nicht zu ihm, sondern sei ein eigener, ganz anderer Platz.