OCR
gasse, die Wehlistraße, die Wachaustraße und auf die nächsten Häuser der Engerthstraße aus. Wenn die Besitzer der kleinen Läden, fleißig und mit kleinen Gewinnen rechnend, gelegentlich aber auch Schmuggelgut verkaufend, genügend verdient hatten, um weiter nach Westeuropa oder über das Meer in die Vereinigten Staaten ziehen zu können, gaben sie ihre Geschäfte an Ankömmlinge aus der nächsten Welle weiter. Nur einmal, als eine größere Gruppe georgischer Juden gekommen war und keinen Platz mehr fand, streckte der „Mexikoplatz“ vorübergehend einen Fühler entlang der Südseite der Lassallestraße bis zur Venedigerau aus und hinterließ nach der Weiterreise der Ladeninhaber eine umfangreiche Verödung. Stets aber blieben einige Angehörige einer Einwandererschicht zurück, und ihre Namen über den Türen der Geschäfte bezeugen gleich geologischen Sedimenten das ehemalige Vorhandensein ihrer Gruppe. Das Warenangebot war fast in allen Läden gleich und sollte dem Geschmack und dem Bedarf der erwarteten Käufer entsprechen: billige Kleider und ein Überangebot von Armbanduhren aller Marken, öfter nachgebaut als echt, Nippesfiguren und tragbare Radios, Heiligenbilder mit Lämpchen für die Polen und billige Teppiche mit dem Bild der Kaaba für Muslime. Der günstige Preis aber hat auch einheimische Käufer aus anderen Teilen Wiens angelockt, deren Renten niedrig waren und die mit ihrem Geld streng haushalten mußten. Wie in den Städten des Ostens bevölkerten Agenten die Straßen, und mancher zugezogene Geschäftsmann mußte anfangs durch staatliche Organe auf landesübliche Öffnungszeiten oder auf das Verbot von Werbung durch das laute Abspielen von Musikstücken hingewiesen werden. Wenn man außerhalb von Wien vom Mexikoplatz spricht, meint man damit nur diesen flußabwärts der Brücke gelegenen Teil; der andere, oberhalb der Brücke gelegene Teil rund um den Rosenpark scheint in einer anderen Welt zu ruhen: ihn hat die Hektik des Kaufens und Verkaufens nie ergriffen. Doch die große Zeit des betriebsamen Mexikoplatzes ist vorbei. Die bunte Reihe seiner Läden zieht sich aus den Nebengassen zurück; sie besetzt nur mehr die anschließenden Teile der Engerthstraße und der Ennsgasse. Der fortschreitende Abbau ist deutlich zu beobachten: immer weitere Lokale werden geschlossen, immer größere Lücken tun sich auf. Doch wie sein Wachstum von außen her durch Faktoren bestimmt wurde, die jenseits des österreichischen Einflusses lagen, so auch der Prozeß seiner Schrumpfung. Die großen Veränderungen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks während des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts lassen die Zahl der von dort kommenden Kunden schrumpfen. Nun bekommen sie auch in ihrer Heimat all jene Waren, und bessere dazu, für deren Erwerb sie sich auf den weiten Weg gemacht hatten. Der „Mexikoplatz‘“ beginnt funktionslos zu werden. Und doch wird dieses unverwechselbare Stück Stadt rund um den Platz, das aus sich heraus eine multikulturelle Stimmung entwickelt hat, nicht schwinden. Denn mittlerweile verstärkt sich der Zuzug von Menschen aus der Dritten Welt in die billigen Wohnungen alter Hinterhäuser der Stuwerstraße und angrenzender Gassen. Sichtbares Zeugnis dieses Prozesses ist das Aufkommen von Versammlungsorten ungewöhnlicher und im Viertel bisher ungewohnter Gemeinschaften, wie der einer Vereinigung muslimischer Alauiten oder der eines Vereines russischer Juden. Neben die selbständigen Kaufleute vom Mexikoplatz ist mit diesen neuen Ankömmlingen eine unterscheidbare Schicht von Lohnabhängigen getreten. 34 Beide Gruppen von Zuwanderern eint der Bedarf an Verkaufsstätten, die ihren besonderen Bedürfnissen dienen. Solche Geschäfte bilden bereits eine Gegenströmung gegen die Verödung des Straßenbildes. Sie schließen manche Wunden, die der Infrastruktur des Viertels durch die Auflassung jener Läden geschlagen wurden, die einst in der Blütezeit des „Mexikoplatzes“ vorschnell und oft nur vorübergehend eröffnet worden sind. In jüngster Zeit scheint der Mexikoplatz näher an die Innenstadt heranzurücken, seit die endlosen Kohlenhöfe des alten Nordbahnhofes durch die klobigen Bürobauten an der Lassallestraße ersetzt wurden. Aber dieser Eindruck täuscht. Den Erdgeschossen der Bauten fehlen die Geschäftslokale. Auch ein einsames (inzwischen an seiner Einsamkeit verstorbenes) Kino und ein Hotel können nicht darüber hinweg täuschen, daß der neue Stadtteil wie alle derartigen Büroviertel nur tagsüber bewohnt ist. Abends fällt er in gespenstische Leere zurück. Ihm mangelt wirkliches Leben. So verbindet er nicht, sondern trennt. Und das Viertel zwischen Donaustrom und Venedigerau, beherrscht von dem groBen Platz am Ufer, wird weiterhin sein eigenes Dasein führen, abseits des Glanzes der Innenstadt und doch als eigentliches Wien an der Donau.