OCR
Erwin Chvojka Und als der Krieg aus den Auen kam, und Lagerhaus sich an Lagerhaus reiht, da kam jede Ordnung abhanden. die lang sie verschlossen gehalten; und jeder durft’ nehmen, was ihm gefiel, und was er konnt tragen und halten. Da gab es, was es schon lang nicht mehr gab: Gemüse und Fleisch und Mehl in der Truhe, Konserven und Käse, Tand und Gewand und blitzblank gewichste neue Schuhe. denn ihn drängten Zöllner, Soldaten: „Mach schnell, denn der Russe steht am Kanal!“ Und als der Krieg die Buden durchschritt und sie hinter sich ließ, zerstört und verbrannt, da fand man, wo einmal ein Gasthaus war, zwei Dutzend Männer, liegend im Sand. Zwei Dutzend und vier, sie kamen von weit, doch wer sie einst gewesen, woher sie kamen, das konnte man nur in ihren Pässen lesen. Sie schienen einander alle gleich, sie unterschieden sich nicht: sie hatten im Nacken ein kleines Loch, doch sie hatten kein Gesicht. Ihr Paß allein bewahrte ihr Bild, gab an, woher sie kamen, doch der sie an die SS verriet, denn es gab keine Zeit für Ruhe, und eilte hinaus und trug seine Last, und mancher trug blitzblanke Schuhe. wie sie dort beisammen lagen, nur eines verband sie: sie haben all blitzblanke Schuhe getragen. Längst lacht man wieder an jenem Ort, wo sie gelegen haben. Kein Mal bezeugt’s. Doch der dies schreibt, der hat sie auch begraben. 16. Juli 2001 Federzeichnung von Corona Gsteu. — Als Mitarbeiterin der Gebietsbetreuung Leopoldstadt, die sich um eine „sanfte Stadterneuerung“ (ohne Abriß und Spekulation) bemüht, ist die Künstlerin Corona Gsteu dem Stuwerviertel und dem Mexikoplatz verbunden. 1964 in Wien geboren, studierte sie an der Universität für angewandte Kunst und an der Parson's School of Design in New York. Seit 1990 als freischaffende Künstlerin tätig; Tuschezeichnungen, Aquarelle und künstlerische Planungen im öffentlichen Raum. 35