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grieren konnten oder wollten, hatten die Möglichkeit, sich als sogenannte „Jüdische Krankenbehandler“ einsetzen zu lassen. Vielfach waren dies Personen, die mit „Ariern‘“ verheiratet waren, also einen gewissen Schutz genossen. Ähnlich wie Geschäfte mußten auch die Behandlungsorte der verbliebenen „Krankenbehandler“ besonders gekennzeichnet werden. Um auf den ersten Blick kenntlich zu machen, daß ein Arzt Jude ist, wurde verfügt, daß die Grundfarbe des Ankündigungsschildes ein lichtes Blau sein muß. Name und Ordinationszeit sowie die Bezeichnung ‚Zur ärztlichen Behandlung nur für Juden berechtigt’ sind in schwarzer Farbe gehalten. In der linken oberen Ecke des Schildes muß in einem Kreis mit gelber Grundfarbe in tiefblauen Linien der Zionsstern angebracht sein. Aus den untersuchten Dokumenten und Schilderungen von Betroffenen geht vielfach hervor, wie sehr die Ärzte gerade in den städtischen Wohnhausanlagen um das Wohl ihrer Patienten bedacht waren. Das Patientenpotential setzte sich vorwiegend aus den Bewohnern der Anlage selbst und aus denen der umliegenden Häuser zusammen. Von der Sozialstruktur her handelte es sich fast ausschließlich um Personen aus der Arbeiterschaft, Kleingewerbetreibende, Beamte und Gemeindebedienstete, die allesamt finanziell nicht besonders gut gestellt waren. Die schwierigen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der 1930er Jahre verschlechterten die Einkommenssituation, so daß die Ärzte, die diese Menschen versorgten und sicher nicht zu den wohlhabendsten ihres Berufsstandes zählten, dennoch die Patienten zum Teil kostenlos behandelten. Von der Kündigungsaktion waren im Mexikoplatz-Viertel zwei Ärzte betroffen: Dr. Leopold Deutsch und Dr. Leopold Goldfarb. Dr. Deutsch, geb. 22. März 1898 in Groß Inzersdorf, hatte seine Ordination in der Ybbsstraße 40/42, Stiege 2, Tür 8. Die Kündigung erfolgte nach der üblichen Vorgangsweise mit 30. Juni 1938. Nach einer Intervention und dem Schreiben des NSÄrztebundes vom 23. Juni 1938 in dem es heißt: „Für die Wohnung [...] liegt im Augenblick kein dringendes Bedürfnis vor und haben wir nichts dagegen einzuwenden, daß dem obgenannten für seine Wohnung eine Fristverlängerung bis zum 15. August 1938 zugestanden wird“, wurde nach einer weiteren Fristverlängerung, erneut abgesegnet vom N S-Ärztebund durch ein Schreiben vom 1. August d. J., schließlich die zwangsweise Räumung für den 16. September 1938, 13.30 Uhr bewilligt. Am 18. September erfolgte die Neumeldung in Wien 1., Adlergasse 12, Tür 14. Dr. Deutsch wurde ab 1. Oktober als sogenannter „jüdischer Krankenbehandler“ zugelassen, verließ allerdings wenige Tage später Wien in Richtung China. Nach dem Ende des Krieges kehrte Dr. Deutsch aus Shanghai zurück und starb 1949 in Wien. Dr. Leopold Goldfarb, am 2. 2. 1899 in Rzezow, Polen geboren, war in der Radingerstraße 21/9/10 Mieter. Das Mietobjekt bestehend aus zwei Zimmern, zwei Kabinetten, einem Vorzimmer, einer Küche, einer Speise und einem Bad, wurde wie im vorigen Fall für den 30. Juni 1938 gekündigt. Die Magistratsabteilung 21 erwirkte beim Bezirksgericht Leopoldstadt einen Exekutionstitel: Auf Grund der gerichtlichen rechtskräftigen Kündigung vom 11. Juni 1938 Geschäftszahl K 13-336/38 hätte die verpflichtete Partei die gekündigte Wohnung [...] am 1. Juli 1938 mittags 12 Uhr räumen müssen. Nachdem dies nicht geschehen ist, so stelle ich folgenden Antrag: Das Bezirksgericht wolle die sofortige exekutive Delogierung der gekündigten Partei aus der von ihr innehabenden Wohnung [...] durch das Vollstreckungsorgan über Anmelden, eventuell unter polizeilicher 42 Assistenz verfügen. An Kosten werden verrechnet vorläufige Barauslagen von RM 2.07. Mit 1. August 1938 wurde die Wohnung für die Wiedervermietung frei gemeldet. Dr. Goldfarb zog mit seiner Gattin Manja und dem sechsjährigen Sohn Erich zunächst in die Czerningasse 8/6. Wie Dr. Deutsch erwarb er die Zulassung als „jüdischer Krankenbehandler“. Am 6. Februar 1939 erfolgte die polizeiliche Abmeldung ohne nähere Angaben. Über das weitere Schicksal der Familie Dr. Goldfarb ist leider nichts bekannt. Vertriebene jüdische Mieter In den kommunalen Wohnbauten der Stadt Wien rund um den Mexikoplatz, vom Lassalle-Hof, dem Heizmann-Hof, dem Wachauerhof bis zur Wohnhausanlage auf dem Handelskai 210, errichtete die sozialdemokratische Wiener Stadtverwaltung insgesamt 922 Wohnungen. Dem Rassenwahn der Nazis mußten 92 Hauptmieter aus diesen Gemeindebauten weichen, die überwiegend der unteren und finanzschwachen sozialen Schichte angehörten. Diese städtischen Wohnungen mit eigenem Wasser und WC waren gegenüber den eng aneinander gereihten Behausungen in Zinshäusern mit Gangklosett und Bassena eine gewaltige soziale Errungenschaft, auch wenn sie sich heute gegenüber unseren Wohnvorstellungen eher bescheiden ausnehmen. Wir finden in den städtischen Bauten rund um den Mexikoplatz vor allem Wohnungen, die aus Zimmer, Küche und Vorraum bestanden. Es gab aber auch Wohnungen, in denen die jüdischen Hauptmieter mit ihren Familienangehörigen lebten, die noch mit Kochnischen, Loggia, Kabinett, Speisekammer oder Balkon ausgestattet waren. Von der „Arisierung“ in diesen Gemeindebauten waren etwa ein Zehntel aller Mieter betroffen, in der Ybbsstraße 15-21 jeder fünfte. Ein Blick in die Statistik über die Sozialstruktur der gekündigten jüdischen Mieter zeigt, daß der Großteil von ihnen ihren Lebensunterhalt mit unselbständiger Arbeit verdiente. Ärzte 2 Freie Berufe 6 Lehrer, Kindergärtnerin 3 Beamte, Gemeindebedienstete 4 Angestellte 26 Arbeiter 21 Gewerbetreibende 13 Pensionisten, Rentner, Private 11 Ohne Berufsangabe, Witwe, Haushalt 6 Die Lebenswege einiger vertriebener Mieter, ihr politisches und gesellschaftliches Engagement, ihre enttäuschte Hoffnung, daß ihre Kriegsdienstjahre während des Ersten Weltkrieges ihre Peiniger milde stimmen könnten, und die Verfolgungen, die sie während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erleiden mußten, sollen in der Folge dokumentiert werden. Gegen den brutalen Akt der Entfernung des „Daches über ihrem Haupte“ durch die nationalsozialistische Wiener Stadtverwaltung versuchten es couragierte Mieter mit Einwendungen an das zuständige Bezirksgericht. In jedem Fall wurden diese Notwehraktionen abgeschmettert. So schrieb etwa der Handelsangestellte und 75 %ige Kriegsinvalide aus dem Ersten Weltkrieg Julius Adler, der mit seiner Frau Rosa in der Ybbsstraße 40-42, Stiege 1, Tür 4 in einer Wohnung mit Zim