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Neun Fenster breit ist das Haus. Die Gebäude links und rechts von ihm überragt es, seine Stukkaturen, soweit man sie noch wahrnehmen kann, sind reicher. Ein Erker, auf dem im vierten Stock ein kleiner Balkon sitzt, betont die Symmetrie. Über dem Haustor hat sich von der ursprünglichen Ausstattung ein kleines Glasfeld erhalten, in das Blumenmuster geätzt sind. Ein Blick durch die Toreinfahrt, von der die Haustreppe abzweigt, stößt sofort auf die Front eines weiteren Hauses, das knapp hinter dem Vorderhaus steht. Die Wohnungen in diesem schmucklosen Stöckelgebäude sind kleiner und zahlreicher als im Vorderhaus. Alle haben das Klo am Gang. Das Stöckelgebäude wird von Leuten aus dem Süden Jugoslawiens bewohnt. Früher trugen die Frauen noch Mäntel aus dunklem Stoff, Kopftücher und hielten den Blick gesenkt, wenn man ihnen im Hausflur begegnete. Auch zwei österreichische Familien lebten dort. Die eine Familie war eine große dicke Frau mit einem kleinen Kind. Das weiß ich, weil im Winter einmal der Strom für die eine Haushälfte ausfiel. Vertreter verschiedener Hausparteien scharten sich um den Sicherungskasten im Hausflur. Die große dicke Frau tauschte die kaputte Sicherung der einen Hälfte einfach gegen die funktionierende der anderen Hälfte des Hauses aus, weil sie, wie sie sagte, die Milch für ihr Kind wärmen müsse. Außerdem wohnte im Hinterhaus noch eine Familie mit einer halbwüchsigen Tochter, die, wenn sie von ihrer Mutter über den Hof geführt wurde oder am Abend eine Flasche Bier für den Vater holen ging, sich im Seitenblick vergewisserte, ob sie von Männern als Frau wahrgenommen werde. Der Hausmeister war, wie ein serbisch-orthodoxer Elektriker, der bei S. und K. die Wände strich, behauptete, ein jugoslawischer Zigeuner. Tagsüber war sein rundes Gesicht oft auf dem Mexikoplatz zu sehen, wo er Geschäfte mit Uhren oder Devisen zu betreiben schien. Seine Frau reinigte jede Woche pflichtgemäß die Stiegenhäuser. Das Hausmeisterpaar hatte eine kleine dicke Tochter, die im Hof, in dem ein in den meisten Jahren unfruchtbarer Nußbaum steht, mitunter allein oder zusammen mit einem anderen Kind mit einem zerbeulten Plastikball spielte. Auf den Spielplätzen des großen Gemeindebaus gegenüber durften sich die Kinder von unserer StraBenseite, der Ausländerseite, nicht sehen lassen. Ging man die Straße, sie verläuft parallel zur Donau, weiter hinunter, entdeckte man einen ähnlichen, etwas älteren großen Gemeindebau, in dessen Hof die Rasenflächen bereits stillgelegt, ihr Betreten verboten war. Aber noch waren die Kinder von gegenüber zahlreich genug, ihre Spielplätze zu behaupten. In der Mitte des Haupthofes des großen Gemeindebaus stand eine überlebensgroße Statue, die an eine Fruchtbarkeitsgöttin erinnerte. Eine weibliche Figur, hauptsächlich aus Brust, Bauch und Schenkeln bestehend und dieses Bild nach allen Seiten gleichermaßen bietend; daher auch ohne Gesicht. Im Vorderhaus sind die Wohnungen größer. Im ersten Stock, wo jetzt eine spanische Frau mit ihrem Gatten, einem Schriftsteller, wohnt, hauste eine rumänische Familie oder Sippe, die an Samstagen Fische briet und ihre Wohnräume heizkostensparend auf den Hausgang entlüftete. Im Unterschied zum ersten Stock, der einstigen Hausherrenetage, befinden sich im zweiten, dritten, vierten Stock auf der rechten Seite des Stiegenhauses jeweils zwei Wohnungen, von denen eine das Klo am Gang hat. Wasser haben alle innen. Auf der linken Seite ist immer nur eine Wohnung. Im zweiten Stock wohnte auf der linken Seite ein einzelner Mann, der jeden Tag um vier Uhr nachmittags nach Hause kam, eine braune Lederjacke und schlotternde Hosen trug, um fünf nach vier mit dem Abfallsack 48 wieder hinunterging und dann im Supermarkt gegenüber beim Einkauf beobachtet werden konnte. Sein Körper und Gesicht waren grob; er machte, trotz seiner verschlossenen Miene, einen nachgiebigen Eindruck. Über ihm hatte sich ein Ehepaar mit kleiner Tochter etabliert. Diese Wohnung wurde andauernd umgebaut, ohne dadurch größer geworden zu sein. Im vierten Stock lebte auf der rechten Seite ein Bundesbahner, der jeden Tag um cirka fünf Uhr sein schweres Dienstfahrrad die Treppe hinauftrug, ein kräftiger, etwas schwerfällig gewordener Mann mit stark ausgeprägten Gesichtszügen, Nudist, der seine Familie in der warmen Jahreszeit zum Nacktbaden in die Lobau ausführte. Seine Frau war in psychiatrischer Behandlung, doch in Hauspflege. Wenn sie bei Sinnen war, wirkte sie geradezu übernormal. Nie hatte sie etwas anderes an als ihren Schlafmantel, und ihr körperlicher Zustand war so schlecht, daß sie die Treppen nicht mehr hinunter- und hinaufgehen konnte. An warmen Frühlingsabenden stand sie manchmal nackt auf dem Hausflur. Der Sohn, angestellt bei einer Versicherung, war kleiner und zarter als der Vater. Die Tochter, klein und rund wie die Mutter, besuchte die Handelsschule. Von den Schulkameraden gehänselt, trug sie die Schultasche bald nicht mehr auf den Rücken geschnallt. Die zweite Wohnung der rechten Seite des vierten Stockes gehörte einer vormals blonden Frau, Pensionistin, die selten da war, weil ihrem Lebensgefährten die vier Stiegen zu beschwerlich wurden. Diese Frau bewahrte ein schreckliches Geheimnis. Wie die anderen Parteien im Vorderhaus hatte sie selten Besuch. Am vorderen Dachrand des Stöckelgebäudes befand sich der Schlafplatz der Tauben. Die Tauben gingen zeitig bei Anbruch der Dämmerung schlafen. Es waren immer dieselben Tauben, die zu dem schmalen Blechstreifen bei der Dachrinne kamen. Um die Plätze in der Mitte wurde jeden Abend mit Schnabelhieben und Flügelschlägen gekämpft. Dann schliefen sie in einer Reihe, zehn bis fünfzehn nebeneinander. Oben im vierten Stock reißt S. die Fenster auf, eines an der Nord- und eines an der Südseite, auf den Luftzug und auf das Läuten der kleinen Tochter wartend, die jeden Moment von der Schule kommen muß, mit einem Sack voll Fragen und Erwartungen. Mein Kind. Mein Kind sagt, es möchte endlich einen wirklich mächtigen Menschen zu Gesicht kriegen. Ob ihm seine Mutter nicht mächtig genug sei, frage ich. Die Tochter drückt ein wenig herum. Es kommt heraus, daß sie meinen Gesprächen mit K. doch schon länger, als ich glauben will, zugehört hat, unseren Erörterungen, an wen wir uns wenden sollten. Sie hat verstanden, daß die Post uns gute und schlechte Nachrichten bringt, daß wir, so ungefähr sagt sie es jetzt, eine Art haben, als wären wir doch immer von anderen abhängig, sonst müßten wir uns nicht manchmal über die anderen ärgern. Auf meinem Schreibtisch, hebe ich zu einer Arie an, kann ich kein Getreide anbauen, aus den Büchern kein Öl pressen, und die Zimmerlinde läßt sich bekanntlich nicht melken. Man ist immer von allerlei anderen Leuten abhängig. Man muß eben ein wenig rechnen, berechnen, versuchen sich auszukennen. Ich wage zu dieser Erläuterung ein verschmitztes Lächeln. Gut, meint die Tochter, du bist also abhängig (sie zieht das Wort in die Länge), alle sind abhängig, es muß aber doch Leute mit mehr Macht geben. Ja dann, dann muß ich gleich den Bundespräsidenten anrufen, daß wir demnächst zu ihm kommen werden, mein Kind will nämlich einen mächtigen Mann sehen. Der Bundespräsident, schreit die Tochter, ist der, dem wir in der Klasse den Hitler-Schnurrbart gezeichnet haben!