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gesehen vom Dahinschwinden eines solchen Zustands, was erreichen sie damit, was ist ihre Leidenschaft, ihre Richtung? Daß sie bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zusammenpassen?“ „Bei all dem fällt mir gar keine Möglichkeit mehr ein, ein Liebespaar darzustellen. Überall diese kleinlichen Einwände, bevor man sich zu einer Idee aufschwingt. Was geht’s uns an, wie es die anderen Leute heutzutage treiben? Du kennst doch das Brecht-Gedicht von den Kranichen, den frei im Äther nebeneinander schwebenden großen Vögeln: So ist die Liebe Liebenden ein Halt.“ „Ich verstehe dich nicht“, sagte sie ernst, „es soll ein Liebespaar abgebildet werden, und du willst alle Beziehungen zwischen den beiden einfach weglassen und nur die leere Möglichkeit, einander zu lieben, stehen lassen? Wie kannst du dir daran das Herz wärmen? Ich möchte schon etwas konkretere Beziehungen zu einem Mann haben.“ K. schluckte das andere Brecht-Wort von der Ähnlichkeit der Geliebten mit dem Bild, das der Liebende sich von ihr mache, und von der Liebe, die zwischen dem Bild und der Ähnlichkeit stattfinde, hinunter, denn er wußte, daß sich S. von Männern auf der Suche nach einer Pygmalion nicht angezogen fühlte. Er hätte gern das letzte Wort gehabt, doch fand er es nicht. Irgendein Bürgermeister von Wien läßt sich ein Grabmal errichten. Der Strom, der an der Stadt vorbeigeht, ist schon in zwei Arme geteilt, um eine Insel zu schaffen. Auf ihr werden wohl die Begräbnisfeierlichkeiten stattfinden. Gewaltige Betonflächen, von schwungvollen Treppenaufgängen unterbrochen, umgeben die Verbrennungsstätte. Ein ägyptischer Tempel der Theben-Periode, etwas einförmig ausgeführt. Von der Reichsbrücke aus wird man der Verbrennung zusehen können. Sie wird ein großes Volksfest sein, um den Mann zu feiern, der Wien durch seine Grabstätte ein neues Antlitz gegeben hat. Eine letzte Botschaft des Dahingegangenen wird verlesen werden: „Den Staub, den uns finstere Zeiten hinterlassen haben, haben wir in Beton gegossen und damit den Wienern ein neues fröhliches Leben geschaffen. Nichts drückt so sehr den Gedanken der Gemeinschaft aus wie ein neues Bauwerk. Wir müssen noch viele Bauwerke errichten.“ Dann wird sich die Menge zerlaufen und die Bauarbeiten werden weitergehen. Die ,Freundschaft’ K.s mit dem Elektrohändler, den er gelegentlich grüßt. K. findet diesen etwa 50jährigen Geschäftsmann, der fast nie lächelt, obwohl sein Gesicht voller trauriger Lachfalten ist, fast sympathisch. Vermutlich ist der Elektrohändler ein resignierter Mensch, der einfach an seinem Platz geblieben ist, unwillentlich, und etwas gebeugt die Tage in seinem Verkaufslokal herumsteht. Die Falten und Narben des Gesichtes zeugen von einer längst vergangenen sich zäh hinziehenden qualvollen Pubertät. K. gefällt das Ungewollte, die Haltungslosigkeit. Es ist, als würde das Gedächtnis dieses Menschen wie ein leichter Korkstöppel auf einem Schwall von Erinnertem schwimmen, matten, etwas abgelebten Erinnerungen, die keinen heftigen Schmerz verursachen, keine besondere Erregung. K. fühlt sich dagegen als ein straff organisiertes Gedächtnis, das von jähen Erinnerungen allenfalls irritiert wird. Das Gedächtnis verbürgt Geistesgegenwart und eine Konstruktion der Zeit, der Daseinsumstände, in der der Wille, eine Zunge hinter den Zähnen, vorgreifen und zuschnappen kann. Wer nicht gelernt hat, darauf zu achten, hat kein Gedächtnis, sein Gedächtnis sind die Regelungen, die der Chef, der Hausherr, der Ehegatte ausgibt. Sein oder ihr Gedächtnis ist ein Gehäuse, in dem sie erinnerungssatt auf den Austausch des 50 Erinnerten aus sind. K. spürt die Erinnerungen der anderen, der Frauen auf der Straße nach sich greifen, ein Geschmack, den er nicht benennen kann, der aus keiner Kindheit kommt, und dennoch, wie jedes Erkennen, ein langsames Wiedererkennen, dem weder Raum noch Zeit gegönnt sind, nur Zwischenraum und Zwischenzeit. Manchmal glaubt K., daß er in den Augen derer, die ihre Erinnerungen nach ihm ausrecken, eine Nuß ist, etwas noch Ungeöffnetes, das nichts erfahren hat von sich selbst. K. träumt, daß er die kleine Tochter des Bundesbahners im Hausgang trifft. Sie erzählt, in der Nebenwohnung sei ein Elefant gestorben. Das unbekannte Flüstern, Scharren, Gestöhne, das man durch die Wände gehört habe, sei kein defekter Fernsehapparat gewesen. Als der Elefant dann tot gewesen sei, seien zwei Herren von der Staatspolizei gekommen und hätten den Totenschein ausgestellt nach dem Vereinsgesetz. Der Elefant sei bei dem Versuch gestorben, sich zu häuten. Seine Haut sei zu dick, habe er gemeint. Auch war seine Kammer zu eng. Er konnte in ihr nicht wachsen. An den Wänden waren Inschriften in fremden Zeichen; der Elefant konnte sie selbst nicht mehr entziffern. In der Schlußphase, als sich schon herausgestellt hatte, daß er ohne die dicke Haut, die er los werden wollte, nicht mehr weiterleben könne — nur mehr die Haut hielt ihn zusammen —, habe er versucht, die abgehäuteten Stellen mit ganzen Rollen von mit solchen fremden Schriftzeichen beschriebenem Papier zu umwickeln, doch scheint er daran wieder langsam erstickt zu sein. Während sie mit K. spricht, streicht sie ein paar klebrige Haare aus dem Gesicht, immer wieder, als wäre es unstatthaft, das Gesicht unter Haaren zu verbergen. Wie sie dann die Treppe hinuntergeht, fällt K. auf, daß sie niemals auch nur versucht, mehr als eine Stufe auf einmal zu nehmen. In einem Dachatelier des großen Gemeindebaus, der der Wohnung von S. und K. gegenüber liegt, wohnt der Maler Kummer mit seiner Frau, einer Kunsthistorikerin, und den zwei Töchtern, blassen Zwillingen. Sie müssen jetzt schon groß sein. In der Wohnung unter ihm hat der Sohn des Hauses, vielleicht dreizehn Jahre alt, den Balkon zu einer Fliegerabwehrstellung ausgebaut und schießt S. und K. die Fenster ein. Seine kleine Schwester bewundert ihn dafür. Er beschießt diese unbegreiflichen Außenhäute, transparenten und verletzlichen Stellen des gegenüber aufgestellten Innenraums und ahnt doch nicht, daß hinter der Trennschicht, die er mit seiner Gummischleuder durchlöchert, kein Innen ist, denn es ist hier, in unserer Gegend, kein Unterschied zwischen Außen und Innen, alles ist von der staubigen Luft und dem gebrochenen Licht durchflutet. Der Maler Kummer kommt heim aus der Slowakei, heim von niederösterreichischen Kulturveranstaltungen (er stammt aus Niederösterreich), er ist voller Schmerz, fühlt sich zerschlagen und mißverstanden. Alle fielen über die Slowaken her, die auch einmal Nation sein wollten, doch er hat sie verteidigt, er ist doch kein Nationalist, begreift nicht, was geschehen ist. Er war in der Minderheit. Hier ist das gleich, hier versteht niemand, warum er sich aufregt, warum die Slowaken sich aufregen: eine Währung mehr, die unter den müden Platanen gehandelt wird. Die große Kirche, die Schildkrötenkirche, wird von den Trinitariern bespielt. Der Orden ist 800 Jahre alt, Armutsgelübde, Nächstenliebe und Betreuung der Sklaven, Mission in Madagaskar. Wenn ein polnischer Pilger nicht mehr weiter weiß, sind immer noch die Trinitarier mit ihren Suppen und ihrem guten Rat da. Sie bieten den einzigen Zuschlupf; alles andere, ein