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Vor fünfzehn Jahren, als Jesusa in die Gegend kam, wurden gerade die ersten Hütten der „Station Zukunft“ errichtet; die Arbeiter legten die Schienen, die die Wüste Sonora durchqueren sollten, und Jesusa gab ihnen zu trinken und machte ihnen das Essen. Gleich den Männern formte sie Ziegel aus luftgetrocknetem Lehm, holte Schilfrohr von der stets wasserarmen Lagune und baute auch für sich eine Hütte. Um den Reisenden Erfrischungen und Imbisse zu verkaufen, stellte sie ihre Hütte an eine Seite der Bahnstation, von der sie auch die Ankunft der Züge sehen konnte, wer ausstieg, wer wegfuhr. Nie entging ihr eine Einzelheit beim Vorgang des Entleerens des heißen Kesselwassers der Lokomotiven in die Zisterne, worauf die Wiederauffüllung der Dampfmaschine mit frischem Wasser folgte, welches die Maschine selbst aus dem tiefen Brunnen pumpte. Von der Station aus nahm Jesusa das Leben der Ansiedlung — ihres Dorfes — wahr, wie jemand, der darauf achtet, was ein Kind zu sich nimmt und ausscheidet. Klein und untersetzt, aber energisch und von der Körperkraft eines Mannes, hatte sie sich mit den Jahren der Rolle der großen Mutter der Gemeinde bemächtigt. Aus anderen Leben geflüchtet, hatte sie die Station Zukunft in ihren Vierzigern erreicht. Den ganzen lieben Tag ging sie, kam sie, rankte sie sich geradezu um den jeweiligen Zug nach Santa Ana oder Mexicali, begrüßte ihr bekannte Reisende und erzählte von den Zeiten, als hier noch Wüste war und mit Glockengebimmel der erste Zug einfuhr. Aber jetzt ist Jesusa verstummt. Hingekauert ist sie zwischen den Bündeln mit ihren Habseligkeiten. Immerfort schweift ihr Blick, müde und trocken, über das Dorf. Ihr Geist tappt durch die Erinnerungen, wie all das entstanden ist, das Häuschen hier, die Hütte dort. Der Lebensmittelladen, die Eisbude. Die Kapelle. Später die Schule. Die Eisenbahn fuhr und brachte immer mehr Menschen, und es war für alle Platz. Viel Platz für jedermann. Es wurde nicht groß, das Dorf. Friedlich und von freundlicher Umgebung war es, das ja. Denn niemals kam es zu großen Aufregungen, und in den Nachmittagsstunden legten sie Platten auf und drehten die Musik so laut, daß sie überall hindrang, besonders zu Mama Jesusa in der Station. Die Hauptstraße, die viel zu breit für die zwei Fahrzeuge des Ortes ist und irgendwann schöne Gehsteige erhalten sollte wie in Ciudad Obregön, führt von der Station zum Hauptplatz, dessen Padre Kino aus Bronze, Spende eines Abgeordneten, der einzige Kopf im Dorf ist, der von der Sonnenglut der Hitzemonate unberührt bleibt. Weiter weg gruppieren sich die Hütten entlang einiger festgetretener Staubstraßen, die sich in Regenzeiten in Schlamm verwandeln, und noch weiter weg ist der Bereich der Huizachebäume und Ziegen. Früher sprang das freundliche Grün kleiner Pappeln zwischen dem Lehm ins Auge, Geschenk einer Baumschule in San Luis Rio Colorado, die die Männer dort gepflanzt haben, wo später einmal eine Straße entstehen sollte. Hübsch anzusehen, wie die Blätter der Pappeln im Wind zitterten. Und mit dem Grün sind die Spatzen gekommen, wer weiß woher. Entlang der Hauptstraße floß das Wasser in einem Graben von der Zisterne zu den Maisfeldern und, an Spieltagen, zum Baseballplatz, damit die Zuschauer wegen des ewigen Staubes 68 nicht protestierten. Die der Station nächststehenden Bäume waren am dichtesten belaubt. Der Graben führte an einer Seite von Jesusas Gärtlein vorbei, und wenn das Schleusentor der Zisterne geöffnet wurde, fühlte die Frau, wie gut das Wasser war, daß der Lattich, so heiß und trocken es immer sein mochte, dennoch um so grüner sprießte. Sie hörte in das Murmeln des fließenden Wassers hinein und glaubte, die Stimme des Lebens zu vernehmen. Was aber jetzt zu hören ist, ist nur mehr das widerliche Sirren der Stechmücken. Kahl ist die Umgebung geworden. Jesusa starrt verbittert auf die Siedlung mit ihren dahinschmachtenden Bäumchen, ihren verwelkten Garten und denkt an jenes „Aus dem Staub bist gekommen Staub wirst du wieder werden“. Nie hat sie die Siedlung so leblos liegen gesehen, so wenig Kommen und Gehen, und viel war es ja nie gewesen. Doch an den Sommerabenden, wenn sich die Leute ihre Stühle in den Schatten der Bäume rückten, um zu nähen, zu tratschen, sich zu erfrischen, begann das Gezwitscher der Spatzen, schrill vor Zufriedenheit. Geblieben sind nur ganz wenige. Wer weiß, wohin die anderen geflogen sind. Der einzige Lärm, den es noch gibt, ist der der Züge, die ihre Fahrt noch zu beschleunigen scheinen, wenn sie an der Station Zukunft vorbeifahren, als wollten sie mit dem ganzen Unglück nichts zu tun haben. Früher blieben sie alle stehen. In der Hitzezeit ließen sie ihr Kesselwasser hier, heiß von der Durchquerung der Wüste, um dafür frisches aufzunehmen, das die Maschine aus dem nahen Brunnen pumpte. Und in der kalten Zeit hielten die Zugführer dennoch an, um einen Kaffee zu trinken und die Pumpe anzuwerfen, die die Zisterne der Siedlung wieder füllte. Doch dann kamen die Diesellokomotiven und die Station Zukunft blieb isoliert, mit der Stadt nur durch eine 300 Kilometer lange, schlechte Landstraße verbunden. Die Eisenbahn hatte die Siedlung vor 15 Jahren zum Leben erweckt, und jetzt ließ sie sie wieder sterben. „sefor, in der Station Zukunft geht es uns ziemlich beschissen. Seit der Zug nicht mehr hält, haben wir nichts zum Leben, und die Maschinisten wollen nichts von unseren Nöten wissen“, sagten die von der Siedlung zu dem Eisenbahnbeamten in Mexicali, der auch nicht wußte, an welche Stelle er sie weiterverweisen sollte. Tagelang rannten sie von einem Büro zum anderen, doch sie richteten nichts aus. Nichts als leere Versprechungen. Stumpf vor Bitterkeit, stellt sich Jesusa einmal mehr vor, mit den Freunden langer Jahre bei abendlichen Geplauder und Bier zusammenzusitzen. „Lauf schon, Jesusa! Der Sechs-Uhr-Zug kommt gleich!“ In ihren Ohren klingen die Glockenschläge des in den Bahnhof einfahrenden Zuges nach; geblendet ist sie von den Sonnenreflexen auf dem verchromten Stahl der Zugmaschine. Die Fenster läuft sie entlang, ihre Ware feilzubieten, und dann, wenn alles bezahlt ist und die Arbeiten mit dem Wasser erledigt sind, gibt sie dem Maschinisten das Zeichen zur Abfahrt. Sie stellt sich das Gelächter der Kinder vor, die um den Wasserstrahl tanzen, der aus der Zisterne in den Graben stürzt, den heiteren Anblick des Dorfes, gesehen durch die heißen Luftwellen, die sich über der Dampfmaschine