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bilden, den irisierenden Bogen darüber, sichtbar nur, wenn der Himmel nicht bewölkt ist, und der immer am selben Ort niedersinkt, nämlich hinter dem rostigen Kohlentender. Die Erinnerungen hüllen sie für Momente in Wärme, aber die Rückkehr in die Wirklichkeit drückt ihr kalt aufs Herz. Eines Abends geschah es. Jesusa war auf den Bahnsteig gestiegen, als der Zug einfach zischend und rasselnd vorbeifuhr, einen langgezogenen Pfiff gegen das Dorf ausstoßend. Wie benommen blieb die Frau stehen. Von damals an hatte sie Tag für Tag, Zug für Zug zusehen müssen, wie ihre Hoffnungen auf ein eigenes Dorf mit einem eigenen Häuschen im Schatten eines Bäumchens zunichte gemacht wurden. Nie hatte sie die Gleichgültigkeit der Leute von der Eisenbahn verstanden. Wie war es möglich, daß sie das Dorf sterben ließen? Jeden Morgen schickte der Bursche vom Telegraphen denselben Hilferuf hinaus, jedesmal noch dringlicher. Der Zug war das Leben des Dorfes. Sie wußten es doch! Dann kam das Telegramm: „Morgen wird der Abendzug halten. Seid vorbereitet.‘ Es war dasselbe wie damals, als sich eine erste Gruppe aus dem Dorf davongemacht hatte. Es blieb nichts als wegzugehen, bis sich die Lage regelte — wenn sie sich regelte. Unterkunft bei irgendeinem Verwandten finden. An einem anderen Ort neu anfangen. Die Hälfte der Menschen war schon weg. Die noch geblieben waren, stehen nun hier mit ihren auf den Bahnsteig gehäuften Habseligkeiten. Sie sitzen auf der vom Dorfkaufmann gespendeten Bank, sitzen im Schatten des großen, leeren Wassertanks, bereit für den Moment, wo der Abendzug stehen bleibt, um sie mitzunehmen. Alles ist trocken. Vertrocknet. Einschließlich der Augen Jesusas. Es gibt nicht einmal Wasser für Tränen. Hitze. Gestank von Scheiße. Es war der Zug mit dem Jesusa immer von ihrer Einkaufsfahrt nach Mexicali zurückkam. Der Zwölf-Uhr-Zug, der aus Hermosillo kam, brachte ihr frische Garnelen und Milch, und der Morgenzug ihren täglichen Eisblock. Der Schaffner würde sagen: „Hier ist dein Eis, Jesusa“, der Maschinist ihr zurufen, daß es ein glühender Tag werde, aber da könne man eben nichts ändern, und der Bremser würde ihr zuwinken, ehe der letzte Waggon in der Biegung der Brücke entschwand. Tag für Tag. Sanft erheben die Schienen ihren zweistimmigen Gesang. Die Lichtreflexe der Zugmaschine werden in der Kurve der Brücke sichtbar, und wenig später fährt sie, ihre Signal- und Glockenschläge ausstoßend, in die Station ein. Sie hält an. Die Burschen machen sich daran, die Pumpe in Gang zu setzen, so daß wenig später der Wasserschwall mit lautem Getöse in die Zisterne stürzt. Die Zisterne geht über. Der Wassergraben geht über. Das Wasser läuft durchs Dorf. Unverzüglich kehrt das Grün wieder, schwinden Staub und Gestank. Es riecht nach Feuchtigkeit, nach Frische. Die Spatzen sind wieder da. Das Volk läuft, lacht, tanzt. Dann aber, Jesusa aus ihrem Tagtraum reißend, erhebt sich jenes wohlbekannte Singen der Schienen, das die Ankunft des Abendzuges ankündigt. Aus dem mexikanischen Spanisch mit Hilfe des Autors übersetzt von Konstantin Kaiser (der Christine Recht für Hinweise dankt). Und plötzlich diese Weinattacken. Die mich überfallen. Wenn das Postfach sich leer in seine Tiefe öffnet. Lichtloser Gravitationsschlund. Der mich verschlingt. Klaffende Wunde. Die sich nicht schließt. Es wird kein Brief kommen. Nie mehr. Von dir. Mit dir sind deine Worte deine Stimme verschwunden. Ich kann nicht enden mit dir zu reden. Ich hätte es wissen müssen. Schon damals. Ich hätte seine Abwesenheit spüren müssen. Als es anfing und entsetzliche Gedanken in meinen Kopf schlichen. Ihn stürmten. Und ich sie wegwischte. Es war undenkbar. Ich suchte im Nahen. Es war mir zu fern gewesen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich lenkte meine Angst in etwas Verstehbares. Ich war ahnungslos gewesen. Ich hatte mir nichts dabei gedacht als keine Antwort auf meinen vorletzten Brief an dich zurückkam. Wahrscheinlich war er verlorengegangen. Irgendwo über dem pazifischen Ozean. Aus dem Flugzeug geflattert. Und versunken. Auf dem langen Weg von Mexiko bis hierher. Das war meine Begründung. Es war einfach so. Ich schrieb einen letzten Brief an dich. In unsere Freundschaft vertrauend. Drei Monate später immer noch keine Antwort. Wir hatten uns doch so viel zu sagen. Ich wurde unruhig. Hattest mich vergessen. Unsere zarte Zeit. Ich rief dich an. Erreichte dich nicht. Ich hatte viele Fragen an dich. Kam es dir gelegen als ich Freundschaft vorschlug. War es nicht ein Schlag ins Gesicht gewesen wie du immer gesagt hast. War ich aus deinem Leben verschwunden. Hattest du dich entfernt mich entfernt. Die Leerstelle mit jemand anderem gefüllt. Die Fragen wuchsen. Ich dachte an dich. Deine Lieder fehlten mir. Deine klingenden Worte. Las deine Briefe. Hörte die Kassetten. Die du mir geschickt hattest. Auf denen du für mich sangst. Was du für mich geschrieben hattest. Ich hörte sie immer seltener. Es war einfacher so. Drei Jahre später kam ich erneut nach Mexiko. In Mexico Ciudad rief ich in deinem Haus an. Eine Frauenstimme. Ich legte auf. War sie der Grund meines Entschwindens aus deinem Leben. Ich war verstört. Fragte mich ob ich dich jemals wieder sehen wollte. Wo du doch den Kontakt abgebrochen hattest. Drei Tage Wut. Ich rief nochmals an. Ich fragte nach dir. Dieselbe Frauenstimme. Die sagte daß du hier nicht mehr wohnst. Ich rief deine Mutter an in Cuernavaca. Luz Alba freute sich über den Anruf. Doch ihre Stimme brüchig. Zögernd. Sie lud mich zu sich ein. Sie müsse mir etwas sagen. 69