OCR
Ian Mason Ehrendoktorat für Stella Rotenberg Heriot Watt University Edinburgh, Rede zur feierlichen Verleihung am 10. Juli 2002 Ich habe die Ehre, Ihnen Frau Stella Rotenberg vorzustellen. Unsere Ehrendoktorandin hat zeitlebends mit großen Widerwärtigkeiten zu kämpfen gehabt, und es ist ihr nicht nur gelungen, die Schwierigkeiten ihrer Lebenssituation zu bewältigen, sondern sie hat darüber hinaus ein Werk von großer Subtilität, Virtuosität und Schönheit geschaffen. 1916 in Wien geboren, verbrachte Stella Rotenberg eine glückliche Kindheit und strebte als junge Frau voll Engagement den Doktorgrad in Medizin an der Universität Wien an. 1933 wurde ihr Studium abrupt unterbrochen, als Hitler Österreich annektierte und jene, die jüdischer Herkunft waren, vom Studium ausgeschlossen wurden. Im März 1939 floh sie in die Niederlande und dann im August desselben Jahres nach Großbritannien, alles zurücklassend, wie so viele in diesen Tagen, alle Freunde und die Familie. Der Krieg war noch nicht vorbei, als sie erfuhr, daß fast ihre gesamte Familie bei der Deportation in ein Konzentrationslager umgekommen war. Über ihre Eltern schrieb sie später, daß sie bei der Deportation von Wien nach Polen aus dem Zug geholt und in einem Wald erschossen worden seien. Wie verarbeiten Menschen ein solches Schicksal, wie werden sie mit diesem Verlust fertig, mit dem zwangsläufigen Exil und der dunklen Verzweiflung? Einige werden damit nicht fertig, andere versuchen es so gut sie können, versuchen ein in Stücke gebrochenes Leben wieder zusammenzufiigen. Stella Rotenberg fand einen Weg der Bewältigung, indem sie Gedichte schrieb. Sie begann 1940, als auch dieses Land von den feindlichen Angriffen bedroht war, in deutscher Sprache zu schreiben - ihrer Muttersprache — in Großbritannien — ihrer Exilheimat. In diesen ersten Jahren in England lebte sie völlig isoliert. Es gab Exilorganisationen, die während des Krieges von deutschsprachigen Flüchtlingen gegründet wurden: den Freien Deutschen Kulturbund, das Austrian Centre und andere. Aber in der Desorientierung und der Gebrochenheit ihres Exillebens war es ihr unmöglich, von diesen Einrichtungen, Veranstaltungen und Kulturprogrammen etwas für sich zu gewinnen, weil sie ganz einfach von ihrer Existenz nichts wußte. Sie mußte ihren eigenen Weg finden. Viele Jahre blieben die Gedichte unveröffentlicht, und Stella schrieb weiter, wenn schon nicht, um die Vergangenheit zu bannen, so wenigstens einen Weg zu finden, sie fühlbar zu machen. Noch vor 1960 begann sie, in Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Ländern zu publizieren. 1972 wurde ihr erster Lyrikband „Gedichte“ veröffentlicht. Darin behandelt sie mit Einfachheit und Klarheit die Themen Exil, Holocaust, all das Geschehene — vor allem den Nationalsozialismus. Da ist natürlich Finsternis in diesen Gedichten und auch in jenen, die mit den Jahren in weiteren Sammlungen folgten und international Aufmerksamkeit fanden: „Die wir übrig sind“ erschien 1978 in Darmstadt; die beiden folgenden Bände „Scherben sind endlicher Hort“ (1991) und „Ungewissen Ursrpungs“ (Prosasammlung) wurden in Wien publiziert. Finsternis, weil es unmöglich ist, über so schmerzliche Themen ohne Erstarren und Schrecken zu schreiben. Aber darüber hinaus findet man auch eine Wärme und eine Humanität, einen Weg der Errettung aus der Vergangenheit, etwas Positives, wo (in Stellas Worten) gefunden werden kann: ... die Kraft zur Aufmerksamkeit für alle Dinge des Lebens, und der Wunsch, alles Lebendige behutsam zu behandeln ... Neben dem Verlust — der Familie, der Heimat und, über die Jahre hinweg, auch der deutschen Sprache selbst (eine Sprache, sogar wenn sie die Muttersprache ist, beginnt, einmal von ihrer Umgebung und Kultur abgeschnitten, langsam, aber mit Sicherheit zu schwinden) — neben diesem Verlust wächst die Kraft. In einem ihrer Gedichte, ihre Kindheit erinnernd, schreibt sie: Meine Mutter hatte einen Schatz. Einen reichen, weiten Wörterschatz. Aus dem schöpfte sie und füllte mir Hand und Aug und Ohren; stillte mir Durst und Hunger; gab mir in den Mund Balsam. Auf die Wund, die ihre Mörder uns geschlagen laß ich ihn tropfen. Ich zitiere hier aus der von Donal McLaughlin von der Heriot-Watt University und Stephen Richardson, einem Dolmetschstudenten, publizierten Übersetzung ihres Werkes ins Englische. Es war 1990, als Donal McLaughlin Stella Rotenberg einlud, bei einem Exilsymposium an der Universität von Aberdeen aus ihrem Werk zu lesen. Es stellte sich heraus, daß dies ihre erste öffentliche Lesung war. In den folgenden zehn Jahre beschäftigte er sich auch in wissenschaftlichen Beiträgen mit der Dichterin. Aber auch andere Wissenschaftler in Großbritannien, Irland, Österreich und Deutschland setzten sich mit ihrem Werk auseinander. Internationale Anerkennung für ihr poetisches Werk erhielt sie 1996, als sie das österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst erster Klasse erhielt. Im April 2001 wurde sie, aufgrund eines einstimmigen Jurybeschlusses, die erste Trägerin des Theodor Kramer-Preises, eines Preises, der deutschsprachigen Schriftstellern und Schriftstellerinnen im Exil, im welchen Land sie immer leben, zugesprochen wird. In ihrem Nachkriegsleben in England war nicht jede Verbindung zum Vorkriegswien zerrissen. Stella heiratete einen jungen Flüchtling aus Wien, ebenfalls Medizinstudent, Dr. Wolf Rotenberg. Dr. Rotenberg ist nicht mehr unter uns, aber wir freuen uns sehr, daß der Sohn, Dr. Adrian Roberts, praktischer Arzt auch er, und die Schwiegertochter Christine, heute anwesend sind. Sehr geehrter Rektor, die Gedichte von Stella Rotenberg sprechen zu uns über das, was wir von der Vergangenheit lernen können, was wir von der Inhumanität, vom Undenkbaren und Unaussprechlichen fassen können, und sagen uns, daß wir, indem wir darüber reden, etwas Positives gewinnen können. Wir sind stolz, an dieser Universität mit ihrem Werk verbunden zu sein, und deshalb ersuche ich Sie im Namen der Faculty of Economic and Social Studies und kraft der Ermächtigung des Senats, den Doktor für Literatur an Stella Rotenberg zu verleihen. Drh.c. Stella Rotenberg Fotos: Sarah Chandler 71