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Um 1875 erreichten die „Gottscheberer“ wie sie sich selbst nennen — mit knapp 30.000 Menschen ihre höchste Zahl. Aber schon 1920 lebten mehr Gottscheer in Amerika als im Heimatland. 13.000 wurden 1941 aufgerufen ihr Land zu verlassen, nur 1.000 verweigerten die Aussiedlung und blieben. Zu wenige, um eine Kultur aufrecht zu erhalten. Zudem anerkannte Jugoslawien die Gottscheer nicht als Minderheit. Heute leben sie vor allem in Österreich, Deutschland und zum überwiegenden Teil in den USA (über 60.000). Die Gottscheberer in der Gottschee wird es bald nur mehr in Geschichtsbüchern geben. Die kalabrischen Arbéreshe sind eine albanische Minderheit in Italien; ihre Kultur hat sich ebenfalls iiber 500 Jahre erhalten. Neben der Sprache spielt die Religion eine wichtige Rolle fiir die Bewahrung der Identitat: Die Arbéreshe sind zwar Katholiken, aber die Messe feiern sie nach griechisch-orthodoxem Ritus. Außerdem können ihre Pfarrer heiraten und nur die Bischöfe müssen zölibatär leben. Gauß beobachtet jedoch, daß er — wie bei den Sorben in Ostdeutschland — kaum einen wirklich religiösen Menschen antrifft, obwohl ihm alle versichern, wie wichtig die Religion für ihre Volksgruppe sei. In den 30 albanischen Dörfern leben kaum mehr junge Leute. Erst nach der Pensionierung kommen viele in die Heimat zurück. Die Gefahr des Verschwindens scheint bei dieser Gruppe noch relativ gering. An die 100.000 Menschen zählen sich dieser Minderheit zu. Allerdings sprechen viele junge Arbéreshe untereinander nur mehr italienisch. Die Zukunft wird weisen, ob sich die Arbéreshe ihre Kultur erhalten werden. Auch die Sorben versuchen vor allem seit dem Ende der DDR ihre Kultur bewußt hochzuhalten. Wie alle Minderheiten haben auch sie nur durch strenges Festhalten an alten Traditionen über Jahrhunderte ihre eigenen Bräuche und Sitten weitergeben können und stehen neuen Einflüssen zwangsläufig kritisch gegenüber. Einer der wichtigsten Bräuche ist der Osterritt, auf den sich die Bevölkerung wochenlang vorbereitet. In den letzten Jahren wurde dieses Ereignis freilich zunehmend zum touristischen Spektakel, an dem immer mehr nicht-sorbische Reiter teilnehmen. Heute sind es nur mehr rund 60.000 Sorben (auch Wenden genannt), und selbst die mittlerweile gegründeten sorbischen Schulen können das langsame Dahinschwinden der Sorben nicht verhindern. Zu DDR-Zeiten wurden fast 50 sorbische Dörfer geschliffen, weil gerade in diesem Gebiet Braunkohle im Tagbau abgebaut wurde. Die Ausgesiedelten wurden außerhalb der Dorfgemeinschaft schnell germanisiert. Speziell die protestantischen Niedersorben leben heute nur noch um die Stadt Cottbus, und viele, die sich als Sorben fühlen, sprechen kein Wort Sorbisch. Besonders beeindruckend ist, was Karl-Markus Gauß über die Aromunen zu berichten weiß. Obwohl sie eines der ältesten Völker Europas sind und nach wie vor über eine hal76 be Million Menschen zählen, werden sie fast nirgends als Minderheit anerkannt. Sie leben über die ganze Balkanhalbinsel verstreut und heißen in jedem Land anders: Remeri in Albanien, Wlachen in Griechenland, Vlassi in Serbien. So unterschiedlich wie ihre Namen sind auch ihre Dialekte; bis heute konnten sich die Aromunen nicht auf eine einheitliche Schriftsprache einigen. Es läßt sich aber feststellen, daß das Aromunische der romanischen Sprachfamilie zuzuordnen ist. Für den europäischen Handel zwischen Osten und Westen waren die Aromunen jahrhundertelang ein wichtiges Verbindungsglied. Doch im 20. Jahrhundert wurden sie vor allem in Bulgarien und Griechenland verfolgt, umgesiedelt und mit neuen Namen ausgestattet. Die jugoslawischen Aromunen konnten sich erst seit der Gründung der Republik Mazedonien in Vereinen zusammenschließen. Die zwei großen Vereine allerdings, die Gauß auf seiner Reise in eigener Weise kennengelernt hat, schließen sich eher voneinander ab. Die Schilderung der Erlebnisse mit der wlachischen Union und der aromunischen Liga gehört zu den besten Teilen des Buches. Die Situation und Geschichte der fünf Minderheiten, die mit diesem Buch dem Vergessen entrissen werden, weisen eine gewisse Parallelität auf. Immer haben die Volksgruppen über Jahrhunderte ihre Kultur und Sprache bewahren können, obwohl sie drangsaliert wurden oder zumindest ungünstige Bedingungen vorfanden. Und das 20. Jahrhundert mit seinen Massenmedien und seiner Mobilität hat bei fast allen das Ende ihrer Geschichte eingeläutet. Wie lange die europäische Kultur noch durch diese kleinen Völker bereichert wird, bleibt abzuwarten. Meist ist der Verfall schon zu weit fortgeschritten, um das Ende abzuwenden und die Völker am Rande Europas werden wohl nicht mehr zur — oft unbekannten und ungeachteten — Vielfalt Europas beitragen. Christina Köstner Karl-Markus Gauß: Die sterbenden Europäer. Wien: Zsolnay Verlag 2001. 235 S. Juden in China Ein Verwaltungsbuch aus der Mongolenzeit (datiert 1280) ist die friiheste bekannte Textstelle tiber Juden in China. Die Regierung erließ ein Verbot, das es den „‚chu-hu hui-hui“ untersagte, Schafe zu schächten. „Chu-hu“ kommt von „guhud“ (Juden auf Persisch), „hui-hui“ war damals die allgemeine Bezeichnung für Muslime. Die Behörden taten sich schwer, zwischen den in Kaifeng ansässigen Juden und Muslimen zu unterscheiden. Zu offensichtlich waren die Gemeinsamkeiten: die Ablehnung des bei den Chinesen so wichtigen Schweinefleisches sowie die Bildlosigkeit des Kultus im Gegensatz zu den bildfreudigen buddhistischen Tempeln. Die Missionare des Christentums hatten ebenfalls ihre Probleme mit den „chu-hu hui-hui“. Klagen über Mißerfolge der Bekehrung stehen im Gegensatz zu Erfolgsmeldungen bei den Götzendienern, wie Marco Polo die Buddhisten bezeichnete. „Der Weg Nach Osten, Jüdische Niederlassungen im Alten China“ von Herbert Franke ist einer von vielen hochinteressanten Beiträgen in diesem umfangreichen Buch, Resultat einer Tagung, die 1997 Experten aus vielen Ländern nach St. Augustin, Deutschland, berufen hat. 700 Jahre Judentum in Kaifeng (ca. 11501850) stehen einem knappen Jahrhundert (2. Hälfte 19. Jh. bis zirka 1949) Judentum in Shanghai gegenüber. In Kaifeng waren es nicht Vertreibung und Ermordung, sondern eine jahrhundertlange friedliche Assimilation, die das Judentum langsam versickern ließ. Donald Leslie bringt es in seinem Beitrag „Kaifeng Jews: Integration, Assimilation, and Survival“ auf den Punkt. Eher als „Warum haben die chinesischen Juden von Kaifeng nicht überlebt?“ stellt sich die Frage: „Wie schafften sie es so lange?“ Die Geschichte der Juden Kaifengs läßt die verschiedenen, kurzen und voneinander unabhängigen Episoden der jüdischen Geschichte Shanghais fast wie eine Fata Morgana erscheinen. Nach den Opiumkriegen der 1840er Jahre kamen zuerst Sepharden aus dem Irak und Indien nach Shanghai. Die Sassoon, Kadoorie und Hardoon, klingende Namen, brachten es zu Reichtum und Wohlstand. Aufgrund der Pogrome in Rußland um die Jahrhundertwende und speziell nach der Oktoberrevolution 1917 flüchteten zahlreiche russische Juden in die ostasiatische Hafenmetropole. Ab 1933 und vor allem 1938-42 retteten sich mitteleuropäische Juden nach Shanghai. Kaifeng, seit etwa 800 Jahren nicht mehr als eine Stadt in der Provinz Honan (südlich Pekings), war in der Sung Dynastie (960-1127) die Hauptstadt des Reiches gewesen, eine Millionenstadt und Mittelpunkt einer hohen Zivilisation. Unter den aus dem Norden eindringenden Djurdjen und ihren chinesischen Hilfstruppen, die 1127 Kaifeng eroberten, entstand eine wirkliche jüdische Gemeinde mit eigener Synagoge (1163). Der Neubau der Synagoge (1279) fiel bereits in die Mongolenzeit, bekannt für ihre große Toleranz gegenüber nichtchinesischen Völkern und Religionen. Die jüdischen Einwanderer waren vorwiegend Händler (es gab aber auch jüdische Beamte, Ärzte und Armeeoffiziere) und stammten wahrscheinlich aus Persien. Man ehelichte nichtjüdische Frauen, assimilierte sich dem Konfuzianismus, wurde chinesisch, überlebte aber dennoch als jüdische Gemeinde, befolgte Gebetsvorschriften und Feiertage. Xu Xin schreibt („Jewish Identity of the Kaifeng Jews‘): Confucianism is a world view, a social ethic, a political ideology, a scholarly tradition, and a way of life sometimes viewed as a philosophy. Confucianism does not involve religious