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Die bestimmenden Faktoren — die einzelnen politischen Parteien, die Besatzungsmächte und die katholische Kirche — versuchten auf die Theater Einfluß zu nehmen und starteten regelrechte „Theateroffensiven“, um ihr jeweiliges Kultur- und Menschenbild durchzusetzen. Allerdings entpuppten sich diese Offensiven, gestartet am Vorabend des Fernseh-Zeitalters und der Kapitalisierung der Freizeit, sogleich als Rückzugsgefechte einer überholten ideologischen Praxis. Angesichts der hereinbrechenden Kulturindustrie wirken die Formen, in denen das Kultur- und Menschenbild durchgesetzt werden sollte, hoffnungslos veraltet, selbst die US-amerikanische Variante. „In den späten vierziger und fünfziger Jahren waren alle politisch Handelnden überzeugt, daß Theater ein geeignetes Medium für die Beeinflussung und Erziehung der Menschen sei.“ Es war eine Zeit des Übergangs, „als alte ideologische Zuordnungen noch funktionierten, obwohl der Prozeß der Aufweichung schon im Gange war. Mit der Ästhetik der Vergangenheit ging es in die neuen Zeiten [...].“ Besonders einprägsam wird das durch die letzten Ausläufer der sozialdemokratischen Massenfestspiel-Kultur dokumentiert. Eine Abbildung des Wagens „Nacht über Österreich“ aus dem großen ÖGB-Festzug zur Feier des 60. Jahrestages der Gründung der Gewerkschaften zeigt, wie man im Stil der alten Arbeiterkultur Faschismus und Nationalsozialismus darstellbar machen wollte: Auf einem niedrigen Wagen ist ein ca. 2,5 Meter hohes schwarzes Trapezoid aufgebaut, auf dem in großen Lettern „Österreich“ steht; es ist wie ein Paket mit Stacheldraht eingewickelt, oben sind zwei Galgen angebracht, am Ende des Wagens ein KZ-Wachturm. Evelyn Deutsch-Schreiner findet gerade die ,konstruktivistische“ Darstellungweise als Lösung — sozusagen im Rahmen der Möglichkeiten — „bezwingend“. Aber dieser Konstruktivismus ist als Lösung so wenig bezwingend, als es — wie ich denke - im Rahmen eines Festzugs überhaupt keine Darstellung des Nationalsozialismus geben kann. Als Wagen Nr. 33 läßt hier die Sozialdemokratie den Nationalsozialismus an den am Straßenrand zuschauenden Österreichern vorbeirollen: Geschichte wird fahrbar gemacht, damit Erfahrungen nicht zu Bewußtsein kommen. Gleich hinter „Nacht über Österreich“ folgen die Wagen Nr. 34 und 35 : „Wie Phönix aus der Asche“ und „Wiederaufbau“. Zivilisationsbruch als FaschingsUmzug. Die Ambivalenz der sozialdemokratischen Kultur ist in der Form beschlossen, in der man die Geschichte sich zu eigen macht: ohne es recht zu wissen, reproduziert man darin ein Bewußtsein, wie es die ideologischen Apparate des politischen Gegners kaum besser hervorbringen. Dessen wichtigster Zeremonienmeister auf dem Gebiet der Theatergeschichte war Heinz Kindermann — und Evelyn Deutsch-Schreiner tut gut daran, ge78 rade ihn in den Mittelpunkt zu riicken, wenn sie sich die ,,katholische und konservative Domiine“ vornimmt. Wie kaum an einer anderen Gestalt läßt sich an Kindermann die Kontinuität der Kulturpolitik in Österreich deutlich machen: Schon in den zwanziger Jahren besetzte er wichtige Verbindungsstellen zwischen Ministerium, Kunst und Wissenschaft; im Nationalsozialismus kann er nach einer glänzenden Karriere als Literaturwissenschaftler in Deutschland das Zentralinstitut für Theaterwissenschaft in Wien aufbauen, wo die Dramaturgen, Zensoren und Theaterkritiker des NSRegimes ausgebildet werden; in den fünfziger Jahren kehrt er auf diesen Lehrstuhl zurück, um die Dramaturgen und Theaterkritiker des Postfaschismus zu instruieren und besetzt abermals zentrale Positionen im Ministerium und innerhalb der ganzen von der ÖVP dominierten kulturellen Sphäre. In Kindermanns festlicher Wissenschaft gibt es allerdings nicht einmal eine „Nacht über Österreich“, auf die zurückzublicken wäre; in ihrem Gesichtskreis ist allezeit Tag und es gilt die Wiederkehr des Immergleichen, ob es nun „deutscher Geist“ oder „Österreichischer Mensch“, „faustisches Ringen“ oder „barocke Theatralität“‘, „musikalische Grundbegabung“ oder „ewige Theaterleidenschaft“ genannt wird. Alles ist „angeboren“, und die Kunst als „volksformende Kraft“ hat die Aufgabe, es zum Ausdruck zu bringen. Das Theater bleibt die rassische Anstalt, die es im Dritten Reich war, die Rasse ist bloß barockisiert. Bei Kindermann findet sich in allen Facetten ausgemalt, worauf es im postfaschistischen Theater ankam; Evelyn Deutsch-Schreiner hat dafür den eindringlichen Satz geprägt: es sei „das Theater einer Gesellschaft, die keine schlimmen Zeiten kennt und keine bösen Erinnerungen hat, keine Verbrechen zu bereuen und keine Toten zu betrauern.“ Das letzte Kapitel ist eine Art Exkurs. Es handelt von der österreichischen Avantgarde als dem Antitheater des Wiederaufbaus — und macht in bestimmter Weise auf den Standort der „Erzählerin“ dieser Theatergeschichte aufmerksam. Im Grunde betrachtet sie die Phänomene der Nachkriegszeit als nahezu vollständig Überwundenes oder für immer Untergegangenes - sei’s die penetrante Österreich-Ideologie oder das autokratische Konzept des Erziehungstheaters, die perfide Abwehr des Erinnerns der NS-Vergangenheit oder der verstaubte Kanon der Hochkultur. Was davon übrig blieb, seien bloße „Nachwirkungen“. Die Studie vermittelt darin einen eigenartigen Optimismus: es liegt ihr eher fern, die Geschichte in dem Bewußtsein zu analysieren, daß jenes Untergegangene - in welcher Form auch immer — wiederzukehren droht, weil seine Voraussetzungen weiterbestehen. Damit hängt nun zusammen, daß Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus nicht als Teil des Ganzen, Pendant zu sozialdemokratischem Umzug und katholischer Spielschar, Grillparzer-Burgtheater-Eröffnung und Brecht-,‚Russentheater“-Schließung begriffen werden. Sie firmieren vielmehr als eine Art außerirdischer Erscheinung des Wiederaufbaus — gleichsam Enklaven der Gegenwart, die ins absolut Vergangene eingelassen sind. Und bei diesem Wunder der Avantgarde inmitten des Wirtschaftswunders der Restauration wird auch nicht kritisch differenziert: Konrad Bayer und Hermann Nitsch nehmen im Jenseits der österreichischen Misere die gleiche Bedeutung an. Doch wenn die Autorin zuletzt das Orgienmysterientheater mit dem Begriff „barocke Theatralität“ doch noch irgendwie in eine Tradition einfügen möchte, dann kann einem schon die Frage in den Sinn kommen, die in dieser Theatergeschichte des linearen Fortschritts keinen Platz hat: ob in Prinzendorf womöglich die Kategorien eines Kindermann Auferstehung feiern. Gerhard Scheit Evelyn Deutsch-Schreiner: Theater im ‚Wiederaufbau’. Zur Kulturpolitik im österreichischen Parteien- und Verbändestaat. Wien: Sonderzahl 2001. 412 S. „Marginal men“ und ihre Karrieren: Österreichische Hochschullehrer in der Emigration Johannes Feichtinger hat sich mit seiner komplexen, vergleichenden Studie über Emigrationsverläufe österreichischer Emigranten von 1933 — 1945 nach Großbritannien und den USA eine ambitionierte Aufgabe gestell. Nach einer zusammenfassenden Darstellung über den Stand der Emigrationsforschung macht Feichtinger gleich zu Beginn seine Intentionen explizit: er erteilt dem vorherrschenden Diskurs, die Rolle von WissenschafterInnen als simple Gewinn- und Verlust-Rechnungen zu bewerten, eine Absage. Ebenso wenig seien Migrationen als linearer Transfer von einem Milieu in ein anderes zu verstehen, sondern schließen Veränderungen der emigrierten Personen und der Wissenschaftskulturen des Aufnahmelandes ein. Wie Karriereverläufe sich gestalteten, welche „Motoren“ und Mechanismen sie beeinflußten, untersuchte Feichtinger anhand der drei Fachdisziplinen Jurisprudenz, Staats- und Sozialwissenschaft, der Kunstgeschichte und Nationalökonomie. Für seine Hypothese ist die Situation intellektueller Milieus im Österreich der dreißiger Jahre entscheidend, weshalb er sein erstes Eckdatum bereits mit 1933 festlegt, obwohl das Leben jüdischer Österreicher bis 1938 meist nicht unmittelbar bedroht war. Da die zunehmend antisemitische Politik an Österreichs Universitäten die Karrieren von angehenden jüdischen Wissenschaftern verhinderte, waren diese ge