OCR
Der niederländische Journalist und Übersetzer Nico Rost berichtet in seinen 1946 veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus dem KZ Dachau von seiner ersten Begegnung mit E.A. Rheinhardt. Rost kommt in die Stube der Krankenbaracke und sieht Rheinhardt in eine Debatte mit französischen Ärzten verwickelt, die behaupten, daß Österreicher doch auch Deutsche seien. Rheinhardt widerspricht ihnen mit einem Zitat, das vom französischen Politiker Paul Painleve stammt: „Österreich ist eine Flamme des Geistes, die nicht erlöschen darf.‘ Wer war dieser Österreich-Patriot, der zwischen allen politischen Lagern stand und sich als „Arier“ vielleicht sogar mit den nationalsozialistischen Machthabern arrangieren hätte können? Emil Alphons Rheinhardt wurde am 4. April 1889 in Wien geboren und auf den Namen Emil Paul Johann getauft.” Sein Vater, Paul Gustav Rheinhardt (1853-1934), war wie seine Vorfahren für den diplomatischen Dienst bestimmt, brach jedoch sein Studium der Rechte ab und verspielte sein kleines ererbtes Vermögen. Um die Existenz seiner Familie zu sichern, betrieb er ein kleines Übersetzungsbüro und arbeitete als Redakteur für verschiedene Wiener Zeitungen und Zeitschriften, aber auch als Schriftsteller. So gab er 1902 den ersten Band eines „Deutsch-österreichischen Künstler- und Schriftsteller-Lexikons“ heraus, veröffentlichte 1903 ein Volksstück mit dem Titel „Der Juden-Sammerl“ und 1911 die Volksoper „Meister Erhard“, blieb damit aber erfolglos. Die Wohnung der Familie Rheinhardt befand sich am Getreidemarkt 15, in der Nähe der Wiener Innenstadt und des Naschmarktes (Erinnerungen an diese Umgebung seiner Kindheit finden sich im Gefängnistagebuch). Rheinhardt war kein guter Schüler, besuchte mehrere Wiener Gymnasien, so auch das renommierte Akademische Gymnasium - allerdings bereits in der 1. Klasse als Repetent. Im Alter von 15 Jahren verließ er diese Schule, war am Ende der 3. Klasse in vier Fächern negativ beurteilt worden — darunter sogar in Religionslehre, was wohl auch als pubertäres Aufbegehren gegen die streng katholische und konservative Erziehung seitens seiner Eltern verstanden werden könnte. Auch sein „Sittliches Betragen“ wurde als „minder entsprechend wegen vielfältiger Ordnungswidrigkeiten“, sein „Fleiß“ als „gering“ beurteilt.’ (In diese Zeit fiel auch der Karzer, an den sich Rheinhardt im Gefängnistagebuch erinnerte.) Die Matura legte er schlußendlich 1910 im Alter von 21 Jahren am k.k. Staatsobergymnasium in Lundenburg/Breclav, einer Kleinstadt an der österreichisch-mährischen Grenze, ab. Ab 1. Oktober 1910 sollte er sein Einjährig-Freiwilligenjahr im 1. Regiment der Tiroler Kaiserjäger ableisten, doch wurde ihm ein Aufschub bis zum Juli 1913 gewährt.‘ Rheinhardt begann mit dem Wintersemester 1910/11 an der Universität Wien Medizin zu studieren und belegte u.a. Vorlesungen zur Anatomie und Sezierübungen bei Julius Tandler.° Zusätzlich soll er auch Vorlesungen von Sigmund Freud besucht haben. Doch sein Eifer als Student ließ bald nach; von Semester zu Semester inskribierte er weniger Wochenstunden: Hatte er in seinem ersten Semester 26 Wochenstunden belegt, waren es in seinem letzten, dem sechsten im Sommersemester 1913, nur mehr fünf. Er war von einem Abschluß weit entfernt und hat sein Studium nach dem Ersten Weltkrieg auch nicht fortgesetzt, obwohl er dies selbst gerne behauptet hat. Am 1. Juli 1913 wurde er zum Einjährig-Freiwilligenjahr einberufen, allerdings bereits am 14. August krankheitshalber „rückbeurlaubt“. Mit 21. Oktober bezog er, der bis zu diesem Zeitpunkt in der elterlichen Wohnung am Getreidemarkt gemeldet war, eine Wohnung im 18. Bezirk, in der Anton-Frank-Gasse 10/2/3.° Dort blieb er bis Ende Juni 1914. Ab 1. Juli 1914 - einen Monat vor Beginn des Ersten Weltkriegs — mußte er dann endgültig zu seinem Einjährig-Freiwilligenjahr einrücken. Vor diesem Zeitpunkt war Rheinhardt bereits im „Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien“ — einer Vereinigung junger Künstler — tätig gewesen. Im November 1912 wurde er zum „Musikalischen Leiter“ und im Mai 1913 zum Obmann gewählt.’ Dieser Verband veranstaltete Lesungen bekannter Autoren wie Karl Kraus, Egon Friedell, Theodor Däubler und Frank Wedekind, Ausstellungen - z.B. eine von Herwarth Walden zusammengestellte Futurismus-Ausstellung - und Konzerte. An eines dieser Konzerte erinnerte sich Rheinhardt im Gefängnis von Nizza. Es handelte sich dabei um das häufig zitierte „Watschenkonzert“, bei dem junge Künstler — darunter Rheinhardt — Schönbergs Musik mit Ohrfeigen gegen Oscar Straus „verteidigten“. Rheinhardts erste literarische Veröffentlichungen erfolgten in der von diesem Verband herausgegebenen Zeitschrift „Der Ruf“, die 1912/13 in fünf Heften mit dem Untertitel „Ein Flugblatt an junge Menschen“ erschien.® „Der Ruf“ war das wichtigste Forum des österreichischen Frühexpressionismus. Hier veröffentlichten u.a. Albert Ehrenstein, Else LaskerSchüler, Robert Müller, Georg Trakl und Franz Werfel. Das Umschlagbild eines Heftes zeigte einmal auch ein expressives Selbstporträt Egon Schieles.’ 1913 erschien Rheinhardts erstes Buch, der Gedichtband „Stunden und Schicksale“, der auch im „Ruf“ beworben wurde. Wohl nicht zufällig gab er in diese Zeit auch sein Medizinstudium auf. 1915 heiratete er die um vier Jahre ältere Konzertsängerin Emmy Heim." Im Ersten Weltkrieg wurde Rheinhardt zunächst als Sanitätssoldat des Hausregiments von Ragusa/Dubrovnik, dem Landwehrinfanterieregiment Gravosa Nr. 37, am Balkan eingesetzt und mit 10.6. 1916 im Range eines Reservesanitätsfähnrichs in das Kriegsarchiv Wien versetzt. Dort stand er unter der Leitung von Oberst Alois Veltze in der „Literarischen Gruppe“ im Dienst der Kriegspropaganda. In dieser „Gruppe“ fanden sich eine ganze Reihe später bekannt gewordener Schriftsteller: Franz Theodor Csokor, Albert Ehrenstein, Rainer Maria Rilke, Felix Salten und Stefan Zweig, aber auch die späteren „Blutund-Boden“-Autoren Rudolf Hans Bartsch und Franz Karl Ginzkey." Rheinhardt, am 1. Februar 1917 zum Reservesanitätsleutnant ernannt, trat als Mitherausgeber zweier Bildbände hervor: 15