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Stefan Zweigs Lebensgeschichte ist die Geschichte einer Entwurzelung. Zunächst im geistigen Sinne: als Pazifist ä outrance in einer Welt der Gewalttätigkeit und des Krieges. Und dann auch in räumlicher Beziehung, als Europäer, der Europa verlassen muß. Mag sein, daß wir, die wir ebenfalls Entwurzelte waren, deshalb das tragische Schicksal dieses großen Dichters und großen Humanisten in so hohem Maße nachempfinden können - selbst diejenigen von uns, die doch irgendwie mit einem Erleben fertig werden konnten, an dem er zerbrach. Welches war die Ursache dafür, daß wir fertigbrachten, was ihm, dem um so viel Größeren, nicht möglich war? Vielleicht war gerade seine Größe diese Ursache. Durch sie wurde er sensibler und weniger robust. Stefan Zweig wäre von den Nazis auch bedrückt und verfolgt worden, wenn er kein Jude gewesen wäre. Denn er verkörperte jenen humanistischen, universellen Geist, den sie „undeutsch“ nannten. Obgleich dann gerade das Beste, was die deutsche Nation der Welt zu bieten hat, unter diesen Begriff fiel. Natürlich ist der Humanist besser dran, wenn er zugleich ein Kämpfer ist. Stefan Zweig war es nicht, und es war ihm auch nicht gegeben, einer zu werden. Auch mit der Feder war er weder fähig noch bereit, dem Übel Widerstand zu leisten. Er hat über dieses Thema mit Paul Zech, mit Thomas Mann und wohl auch mit Romain Rolland grundsätzliche Diskussionen geführt. Ich könnte in dieser Frage keineswegs Stefan Zweigs Standpunkt teilen. Begreifbar aber ist derselbe für mich auch heute sehr wohl. Der seelische Prozeß, den der „rassisch“ Verfolgte durchmacht, ist von dem des politisch Verfolgten sehr verschieden. Bei ihm ist die Verfolgung nicht zu Ende, sobald er ihr physisch entronnen ist, denn er hat sie verinnerlicht und glaubt schließlich selbst, ein Wesen minderer oder wenigstens anderer Art zu sein als die Angehörigen der „privilegierten“ Rasse. Er muß erst lernen, daß, was ihm widerfuhr, nicht nur ein Unglück ist, sondern auch ein Unrecht. Sobald er es aber gelernt hat und zum Kampf dagegen angetreten ist, gibt ihm diese Haltung auch das Bewußtsein seiner Menschenwürde zurück. Es waren freilich auch persönliche Gründe dafür maßgebend, daß Zweig Brasilien zum Aufenthaltsort wählte und nicht die Vereinigten Staaten, wohin er durchaus auch hätte gehen können. Dort lebte Friderike, seine erste Frau, und deren Zusammentreffen mit Lotte, der zweiten, wollte er lieber vermeiden. Gewiß aber spielte bei dem Entschluß auch seine Liebe zu Brasilien, wo er ja schon gewesen war, und zu ganz Lateinamerika eine Rolle. Und zwar nicht trotz dessen Unterentwicklung sondern vielmehr gerade ihretwegen. Denn er begriff, daß solche „Primitivität‘‘ ein höheres Maß an Menschlichkeit beinhaltete. Zweigs Entschluß, sein Buch über Brasilien zu schreiben, war aber auch durch äußere Umstände bedingt. Er soll dafür tausend Einreisebewilligungen für deutsche Juden erhalten haben. Man kann darüber streiten, ob dieser gute Zweck rechtfertigte, was er tat. Er konnte wohl auch kaum ermessen, wie sehr einem Getulio Vargas darum zu tun sein mußte, von einem weltberühmten Schriftsteller bescheinigt zu bekommen, daß sein Brasilien eine Idylle war. Ich habe in meinem Roman über Zweigs Leben erwähnt, welchen Schock es für ihn bedeuten konnte, zu entdecken, daß in dem von ihm so bewunderten Brasilien und unter einer Regierung, die ihn mit solcher Ehrerbietung behandelte, ebenfalls Unmenschliches geschah. Sollte eine solche Entdeckung nicht mit zu seinem Entschluß, seinem Leben ein Ende zu bereiten, beigetragen haben? Gut noch erinnere ich mich daran, daß ich auf einem Germanistentreffen in der Stadt Mendoza von einem brasilianischen Kollegen kritisiert wurde, weil ich so etwas für möglich hielt. Ich glaube aber nicht, daß ich gar so sehr im Irrtum war. Gewiß ist es dem Humanisten Zweig sehr zu danken, daß er durch sein Brasilienbuch das „rückständige‘ Land, das damals in den „entwickelten‘ Ländern kaum bekannt und noch weniger gewürdigt war, ethisch und kulturell rechtfertigte. Dennoch kann selbst ihm der Vorwurf des Eurozentrismus nicht ganz erspart werden. Denn wenn in der Exotik auch Poesie enthalten ist, so gewissermaßen doch auch ein klein wenig Verachtung. Was exotisch ist, hält man nicht für „normal“. Natürlich hat Zweig für seine Arbeit am Brasilienbuch ausführlich und verantwortungsvoll recherchiert. Brasilianische Stimmen selbst aber und also auch seine Landesproblematik kommen darin nicht zu Wort. Alles Lob und sogar die Liebe zu diesem großartigen Land stellen in diesem Sinne also eine Schwäche dar. Hätte Zweig deswegen mit dem Buch über Brasilien warten sollen, bis er im Lande echte Wurzeln geschlagen hätte? Etwa dreißig Jahre, wie ich es tat, bevor ich es wagte, über Argentinien zu schreiben? Der arme Mann, wahrhaftig, verfügte über diese Zeit nicht. Es gab eine Zeit, da war Stefan Zweigs Werk in Argentinien sehr bekannt, mehr vermutlich als in Brasilien. Unsere bedeutenden Schriftsteller Jorge Luis Borges, Vicotria Ocampo, Adolfo Bioy Casares u.a. erinnerten sich an ihn noch von seinem ersten Besuch im Jahre 1936. Da hatte er bekanntlich am Weltkongreß des Internationalen Pen-Clubs teilgenommen, der in Buenos Aires stattfand. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch für die Schüler der eben gegründeten Pestalozzi-Schule jene berühmte Grammophonplatte besprochen, wo er den Kindern die Lehren des Humanismus nahe zu bringen suchte. Einige der Mädchen und Knaben von damals, die jene Rede hörten, sind noch am Leben. Sicher spielte auch der Umstand eine wichtige Rolle, daß Alfredo Cahn in Argentinien — erst in Buenos Aires und dann in Cérdoba — lebte. Alfredo Cahn war Zweigs guter Freund, der die besten Ubertragungen seiner Werke ins Spanische anfertigte und auch sonst sein Möglichstes getan hat, um sie im hispanischen Kulturkreis bekannt zu machen. Ferner spielte die Freie Deutsche Bühne unter Paul Walter Jacobs Leitung Zweigs Stück „Das Lamm der Armen“. Und die Freie Deutsche Bühne war es auch, die bei Zweigs tragischem Lebensende in Buenos Aires eine würdige Totenfeier abhielt. In Buenos Aires lebte auch ein weiterer guter Freund Zweigs, der Dichter Paul Zech, der sich im Rahmen seiner Kräfte und über diese hinaus abmühte, das Gedenken an ihn wachzuhalten. Er opferte seine letzten Ersparnisse, um zu Zweigs Ehren eine Broschüre herauszugeben. Doch wer hör25