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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Nach dem Sturz von Salvador Allende blieb ihr ein zweites Exil, das sie nach Frankreich führte, nicht erspart. So führt die Spur in ihrem Werk von den Verfolgten und Gefolterten der Nazidiktatur zu den Verfolgungen und Folterungen in Chile, verbinden sich jiddische Lieder mit politischen Protestliedern. In ihrem Werk tritt der Exilaspekt deutlich zutage. Die Verknüpfungen jiddischer Musikidiome mit spanisch-lateinamerikanischen, die Sprachcollagen aus deutschen und spanischen Texten sind auch für ungeübte Ohren gut rezipierbar. Ob aber eine ähnlich intensive Verarbeitung des Erlebten sich auch in den Werken anderer Komponistinnen findet, ob sich z.B. Musikwissenschaftlerinnen durch ihre Exilerfahrung thematischen Spezialgebieten zuwandten, ob Interpretinnen eigenes, ungewöhnliches Repertoire entwickelten, sind offene Fragen. Es ist zu fragen, ob und wie die Ambivalenz von Bruch und Kontinuität zu einer Verschiebung, einer Erneuerung des ästhetischen Standortes geführt hat. Es gilt zu fragen, ob es geschlechtsspezifische Rückbezüge auf die „alte, heimatliche“ Kultur gegeben hat, ob Einflüsse anderer, vormals fremder oder unbekannter Kulturen aufgenommen wurden. Es gilt zu fragen, ob der besondere Umgang der Frauen mit der neuen Sprache auch zu einem anderen Umgang mit Texten für Lieder, für Libretti etc. geführt hat. Es stellt sich die Frage, ob die frauentypische Kombination von Sprache und Musik zu spezifischen Ergebnissen geführt hat, zu frauenspezifischen Exilkompositionen. Es stellt sich die Frage, ob dadurch gesellschaftliche, äußere Gegebenheiten anders in Werk und Repertoire aufgingen, ob die größere gesellschaftliche Durchlässigkeit z.B. in den anglophonen Ländern Frauen nicht nur ungewöhnliche Karrieren ermöglichte, sondern auch zu einer spezifischen Änderung, Erweiterung im musikästhetischen und musikhistorischen Sinne führte. Und auch, ob der dort andere Umgang mit der ja meist jüdischen Herkunft der exilierten Frauen Einfluß auf Werk und Schaffen hatte. Es stellt sich die Frage, ob und wie das oktroyierte Jüdischsein, die erzwungene Reduktion der meist assimilierten jüdischen Frauen auf ihre Herkunft, Konsequenzen auf das eigene Werk hatte, ob die zu beobachtende Tendenz der Rückbesinnung in hohem Alter auf das im Exil Erlebte zu verändertem Denken führte. Auch die Frage, ob und wie das zu beobachtende Phänomen zu bewerten ist, daß es gerade den Exilierten wie z.B. Vally Weigl selten oder nie gelang, an den modernen, den avantgardistischen Strömungen der Musikentwicklung teilhaben zu können und zu wollen, an ihnen anknüpfen zu können. Und es stellt sich natürlich die Frage, ob und welche Tendenzen in all den anderen Exilländern beobachtet werden können. Das sind nur allererste Fragen, mehr oder weniger willkürlich aufgelistet. Die zwei Seiten der Medaille, die Ambivalenz zwischen Bruch und Kontinuität können nur mit Hilfe von gesonderten Untersuchungen über exilierte Frauen, über Musikerinnen, Komponistinnen, Musikschriftstellerinnen, Musiktherapeutinnen usw. dargestellt werden. Die gibt es aber nicht. Noch nicht. Im deutschen Sprachraum gibt es bisher: eine Biographie über die in Hamburg geborene Komponistin Ruth Schönthal, eine Reihe von Kurzbiographien, diverse, noch unentdeckte, Autobiographien, zahlreiche Lexikaeinträge und unzählige, nicht rezipierte Werke. Und es gab jetzt den meines Wissens ersten Kongreß, der sich ausschließlich und intensiv einer exilierten Musikerin widmet. Und dafür möchte ich dem Orpheus Trust und allen Beteiligten schr, sehr herzlich danken! Die Hamburger Arbeitsgruppe Exilmusik am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg unter der Leitung von Prof. Petersen hat vor einigen Monaten ein Buch veröffentlicht. Es widmet sich ausschließlich exilierten Musikerinnen und Komponistinnen, darunter auch Vally Weigl. Es ist die wohl erste Arbeit, die sich mit diesem speziellen Thema befaßt. Die 14 Essays über die Musikerinnen, die wir in unserem Buch vorstellen, bilden aber nur einen kleinen Mosaikstein, einen ersten Einblick in ein vollkommen unerschlossenes Thema. Nie und nimmer kann von diesen 14 auf die anderen ca. 2000 Musikerinnen geschlossen werden, die alleine in der Hamburger Datenbank aufgelistet stehen. Und doch ist mit dem Entstehen des Buches der Eindruck entstanden, daß sich die frauenspezifischen Exilforschungsergebnisse auch auf den Musikbereich übertragen lassen könnten. Die Reaktion auf das Exil und der Umgang mit dem Exil scheint sich auch hier in bestimmten Mustern abbilden zu lassen. So finden sich hier z.B. in den Schilderungen der Komponistinnen Rosy Geiger-Kullmann und Vally Weigl, das es die Frauen der Familie waren, die drängten ins Exil zu gehen. Der Umgang mit der Sprache wird thematisiert. Liedtexte, Libretti wurden übersetzt — nicht nur der eigenen Werke, sondern auch die der Männer. Es wurde in der neuen Sprache gearbeitet, wurde die neue, andere Literatur rezipiert. Es gab einen bewußten Umgang mit der neuen, der fremden, der anderen Kultur in den Werken, im Repertoire der Künstlerinnen. Und es gab nicht zuletzt hochinteressante, außergewöhnliche Karrieren, von denen ungewöhnlich viele zu einer Professur führten. So prägten die Geigerin Eva Hauptmann und die Piänistin Ilse FrommMichaels den Neubeginn der Hamburger Hochschule für Musik nachhaltig als Lehrerinnen vieler Musiker der Weltklasse. Die Theresienstadtüberlebenden Edith Kraus und Zuzana Rudzickova setzten Marksteine in der Klavier- bzw. Cembalokunst. Pia Gilbert und Vally Weigl wurden zu Mitbegründerinnen der Spezialdisziplinen „Komposition für modernen Tanz“ bzw. der Musiktherapie. Es gibt also den Eindruck, daß sich bisherige Exilforschungsergebnisse auch auf die wenigen von uns betrachteten Frauen übertragen lassen können. Ob sich aber dieser Eindruck verfestigen kann und sich auch auf die Produktion, auf das Werk, die Herangehensweise an Musik übertragen läßt, ist eine offene Frage. Doch damit wird vielleicht deutlich, wo wir tatsächlich stehen: am Anfang. Unsere erste Forschung, unser Buch „Lebenswege von Musikerinnen im „Dritten Reich“ und im Exil“ schließt also keine Lücke. Es macht auf eine große aufmerksam. Ziel muß es sein, die Exilierten und ihr Werk zu rehabilitieren, die speziellen Bedingungen der exilierten Frauen, der Musikerinnen, Komponistinnen, der Musikschriftstellerinnen usw., die Auswirkungen der Naziherrschaft auf Leben und Schaffen zu systematisieren und in die Musikforschung, in die Kompositionsgeschichte hineinzuschreiben, sie zu vervollständigen. Es gilt gleichzeitig exemplarisch wie grundsätzlich zu arbeiten und damit nicht zuletzt das Interesse an Musik von Frauen zu wecken, die den musikalischen Kanon, das Konzertleben insgesamt erweitern möge. Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Band von Elena Fitzthum/Primavera Gruber (Hg.): GIVE THEM MUSIC. Materialien zum Symposion Musiktherapie im Exil. Wien: Edition Praesens (erscheint voraussichtlich Jänner 2003). 33