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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Die Liste der Ehrungen, mit denen Erwin Weiss im Laufe seines langen Lebens ausgezeichnet wurde, ist lang. Sie reicht vom Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst über den Luitpold-Stern-Preis bis zum Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien, um nur einige zu nennen. Wirklich wichtig ist ihm aber nur ein einziger Titel: „Der des Professors. Denn mein Leben ist pädagogische Arbeit gewesen.“ Von 1960 bis 1978, beinahe zwanzig Jahre lang, war Erwin Weiss Direktor des Konservatoriums in Wien. Wesentliche Weichenstellungen für die pädagogische Arbeit wurden von ihm in diesen zwei Jahrzehnten vorgenommen. Viele junge Musiker haben unter seiner Direktion ihre Ausbildung genossen, und daß nicht wenige sich bis heute gerne an ihren Direktor erinnern, freut Erwin Weiss besonders. „Ein ehemaliger Schüler schrieb mir: ‚Bei Ihnen hab’ ich nicht nur Klavierspielen gelernt.’“ Lernen konnte und kann man bei Professor Weiss vieles. Nicht nur Harmonielehre und Dirigieren, sondern auch so manches, das auf den ersten Blick nicht unbedingt mit Musik zu tun hat: Haltung zum Beispiel. Und Anstand. Solidarität. Und nicht zu vergessen: Humor und Heiterkeit. Alles Eigenschaften, mit denen Erwin Weiss nach wie vor reich gesegnet ist. Begonnen hat der pädagogische und musikalische Weg von Professor Weiss schon Ende der Zwanziger Jahre in Favoriten. Bereits als Siebzehnjähriger organisiert er Musikabende, und bald danach leitet er im Rahmen der Arbeitermusikbewegung einen Chor. Die Arbeitermusikbewegung war in jenen Jahren ein veritables Massenphänomen. Nicht einmal den Vergleich mit den Arbeitersportlern brauchte man zu scheuen. Immerhin war die Zahl der eingeschriebenen Arbeitersänger auf mächtige 15000 angewachsen, und viele der 452 Vereine waren sowohl künstlerisch als auch politisch höchst leistungsfähig. „Es stand nicht die politische Agitation im Vordergrund, sondern die künstlerische Erziehung. Es hat natürlich schon Fraktionen gegeben. Die einen bevorzugten die traditionelle, einfache Musik. Aber es haben ja auch Schönberg und Webern Arbeiterchöre geleitet. Die haben natürlich die Moderne gefordert.“, erinnert sich Erwin Weiss an jene bewegten Jahre. Seine eigene Ausbildung erhält er zwischen 1928 und 1937 an der Wiener Staatsakademie. Zu seinen Lehrern zählten unter anderem Max Springer und Joseph Marx. Bei Felix Weingartner absolviert er die Kapellmeisterschule, die Konzertklasse belegt er bei Professor Kerschbaumer. Daneben war Erwin Weiss intensiv in der sozialistischen Bewegung engagiert. „Ich war musikalischer Betreuer bei den ‚Roten Spielern’ in Favoriten. Einer der Mitarbeiter war Jura Soyfer. 1933, da war das Parlament schon aufgelöst, sind wir in Wiener Neustadt verhaftet worden. Damals studierte ich noch an der Akademie für Musik und darstellende Kunst, und ich mußte befürchten, daß man mich relegiert.“ Glücklicherweise geschah dies nicht. Vollkommen richtig zeigte sich allerdings seine Einschätzung der faschistischen Gefahr. Erwin Weiss und seine Genossen wiesen bereits 1933 im Favoritner Arbeiterheim unter der Parole „Wir klagen an“ auf die Greuel im KZ Dachau hin. Von 1936 an konzertiert Weiss als Pianist. Einmal mehr läßt sich seine ganz persönliche Entwicklung als Musiker nicht von der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung trennen, und Professor Weiss Erinnerung an eines seiner ersten Konzerte ist bleibend verbunden mit der Erinnerung an den großen Sozialistenprozeß von 1936. Im Figaro-Saal saßen die eben freigesprochenen Genossen im Publikum, unter ihnen Bruno Kreisky. Seine pianistische Karriere begann damals durchaus vielversprechend. Mangel an Talent war jedenfalls nicht der Grund dafür, daß seine solistische Laufbahn in den folgenden Jahren nicht weiter und höher führte. Spätestens ab 1938 plagten Erwin Weiss aber gänzlich andere Sorgen als die um seine musikalische Karriere. Nach dem Anschluß Österreichs an Hitlerdeutschland ging es für ihn wie für so viele andere ums Überleben. Mit seinem Bruder und zwei Freunden flüchtet Erwin Weiss per Bahn über Salzburg nach Vorarlberg, von dort aus zu Fuß über die Schweizer Grenze. In der Schweiz waren die Brüder Weiss mit einem Lehrer befreundet. Der bat Erwin, den Pianisten, seinen Schülern am Klavier vorzuspielen. Die Schüler sollten sehen und hören, welche Leute man aus Österreich verjagt. Dazu kam es allerdings nicht mehr. Erwin Weiss mußte auch die Schweiz verlassen. Er war ausgewiesen worden und mußte nochmals illegal über die Grenze, diesmal über die französische. In Paris gibt er erfolgreich Klavierkonzerte, unter anderem im renommierten Salle Gaveau, doch nach acht Monaten ist auch im französischen Exil kein Bleiben mehr. So wurde 1940 Großbritannien die nächste und letzte Station seines Exils. In England wird er allerdings vorerst auf der Isle of Man zusammen mit zahlreichen „enemy aliens“, sogenannten feindlichen Ausländern, interniert. Aber selbst hinter Stacheldraht wird musiziert, und Hans Gäl, der in Österreich bereits mehrere Opern komponiert und 1927 die Madrigalgemeinde in Wien gegründet hatte, vergleicht in einer Tagebuchnotiz den jungen Pianisten Erwin Weiss mit dem damals bereits berühmten Theodor Reizenstein: „Ein echtes Klaviertalent. Wenn auch noch kein so reifer Musiker wie Reizenstein, ist er noch brillanter und spielt virtuose Sachen so, daß man wirklich Vergnügen daran hat. Das dem Reizenstein beizubringen war ein schweres Stück Arbeit. // Weiss wird also zwei Stücke von Brahms und die AbeggVariationen von Schumann spielen (er macht das ausgezeichnet), und die Paradepferde bleiben für Reizenstein.“ (Zit. nach: Walter Pass/Gerhard Scheit/Wilhelm Svoboda: Orpheus im Exil: die Vertreibung der österreichischen Musik 1938-1945, Wien 1995) Für die österreichischen und deutschen Antifaschisten, die nichts lieber getan hätten, als selbst gegen die Nazis zu kämpfen, ist die Internierung im britischen Lager eine doppelt quälende. Denn zu den schlechten Lebensbedingungen in den 35