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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Baracken kommt noch die unerträgliche Tatsache, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Glücklicherweise werden die meisten nach wenigen Monaten aus der Internierung entlassen. Für die kommenden Jahre wird London das Exil für den Wiener Musiker sein, und kaum ist er in der britischen Metropole angekommen, engagiert sich Erwin Weiss von neuem als Pädagoge. „Ich habe in London den ‚Young Austria Choir’ der ‚Freien Österreichischen Jugend’ geleitet. Der Chor erreichte in ganz kurzer Zeit ein ansehnliches Niveau. Wir haben Konzerte gegeben und bei Versammlungen mitgewirkt. Das waren wirklich höchst begabte junge Leute. Die haben sogar das ‚Schicksalslied’ von Brahms gesungen.“ Weil man kaum Notenmaterial zur Verfügung hatte, schrieb Erwin Weiss für den Chor zahlreiche Lieder auswendig aus dem Gedächtnis nieder. Erich Fried zählt in London zu seinen Freunden. Weiss vertont mehrere Texte des Schriftstellers — und steuert auch gleich die Titel bei. Denn wie andere Lyriker auch, hätte Fried sich gelegentlich schwergetan, wirkungsvolle Titel für seine Gedichte zu finden. Unmittelbar nach Kriegsende kehrt Erwin Weiss mit einem der ersten Flüge ins zerbombte Wien zurück. Die Bruchlandung, die ihn damals, am 20. November 1945, beinahe das Leben gekostet hätte, kommentiert er heute lachend. Verletzte hätte es gegeben, eine Tragfläche sei abgebrochen, zuletzt habe sogar Feuer aus der britischen Militärmaschine geschlagen. Er, Weiss, hätte sich aber damit getröstet, daß er wenigstens ganz in der Nähe des Wiener Zentralfriedhofs gelandet sei. 36 Wieder stürzt sich Erwin Weiss in die pädagogische Arbeit. Nun baut er den Chor der Sozialistischen Jugend auf. ,,Innerhalb von drei Wochen hatte ich hundert Leute beisammen. Mit denen habe ich dann den 1. Frauentag vorbereitet. Der fand in der Volksoper statt, und ich habe die Musik dafür geschrieben.“ Legendär geworden ist sein Lied „Ein neuer Frühling“, eine optimistische, zukunftsgerichtete Vision von einer besseren Welt, die es nun, nach Faschismus und Krieg, zu gestalten galt. Das Lied ist untrennbar mit seinem Namen verbunden, vom musikalischen Wert schätzt Erwin Weiss allerdings andere seiner Kompositionen wesentlich höher ein, z.B. die acht Lieder: Geflüster der Liebe oder Rückkehr des Prometheus. Auch seine Weihnachtskantate, 1952 zu einem Text von Gerhard Fritsch geschrieben, fände er einer Wiederaufführung würdig. Das „Motto“ all seiner musikpädagogischen Arbeit hat sich nicht geändert: „Wir haben die Talente zu suchen in untypischen Milieus. Was es da alles an Begabungen gibt, die einfach verlorengehen! Weil sie nie Gelegenheit haben, sich zu entwickeln.“ Er erinnert sich, „wie schüchtern oftmals Arbeiterkinder zu Aufnahmsprüfungen gekommen sind, während die Kinder der Wohlhabenden häufig zu täuschen und zu blenden verstanden, und auf diese Weise Eindruck machten.“ Auf der Straße begegnet Erwin Weiss von Zeit zu Zeit ehemaligen Chormitgliedern oder Schülern. Und manche von ihnen danken ihm mit Tränen in den Augen: „Ohne dich wäre mein Leben anders verlaufen. Du hast mich zur Musik gebracht.“ Viele nicht nur zur Musik. So manchen hat die Begegnung mit Erwin Weiss weit umfassender geprägt, und ohnehin würde er als Pädagoge vieles dagegen einzuwenden haben, beschränkte sich ein Lehrer ausschließlich auf sein (musikalisches) Fachgebiet. „Eine Voraussetzung für wirkliches Lernen ist, daß der Lehrende weiß, unter welchen Bedingungen sein Schüler oder seine Schülerin lebt. Die menschliche Kommunikation ist einfach unerläßlich.‘“ Erwin Weiss verstand sich offenbar auf die hohe Schule der Motivation, und das zu Zeiten, als noch nicht von ‚Coaches’ die Rede war sondern eher noch von ‚künstlerischen Ziehvätern’ und -müttern. „Ein Lehrer sollte nicht meinen, er könne einen Schüler ermutigen mit dem Satz: ‚Dieses Stück ist leicht.’ Wenn es sich dann für den Lernenden doch als nicht einfach herausstellt, zieht der den Schluß, nicht genügend begabt zu sein. Motivierender ist sicher der Satz: ‚Ich bin neugierig, ob du das zusammenbringst. Es ist nämlich ziemlich schwer.’ Wenn der Schüler es dann beherrscht, gibt ihm das ein wunderbares Erfolgserlebnis.“ Ein Erfolgserlebnis, das er selbst sich wünschen würde, wäre die Wiederaufführung der einen oder anderen seiner Kompositionen, jener Acht Lieder zum Beispiel. Die Chance, ihm diesen Wunsch zu seinem 90. Geburtstag am 6. Oktober 2002 zu erfüllen, ist vertan. Winfried Schneider dankt dem Verein Orpheus Trust — Verein zur Erforschung und Veröffentlichung vertriebener und vergessener Musik für wesentliche Hinweise.