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Fremden bald jegliches Interesse an Kellermanns Sarg abhanden kommt. Büttelsburg fällt zurück in seine Bedeutungslosigkeit — schlimmer, es ist, als würde der Sarg das soziale Gefüge der Ortschaft auflösen, zum materiellen Niedergang gesellen sich Zank und Mißgunst, allmählich zeichnen sich die Konturen der Geschehnisse ab, die im Vergessen aufgehobene Geschichte kehrt wieder. Wie geht man mit ihr um, und was passiert, wenn man sie nicht haben will? Ein allwissender Erzähler breitet seine Kenntnisse vor uns aus. Manchmal schlüpft er in die Gedankenwelt ehrsamer Bürger, führt uns die Wirrnis vor, in der sie sich selbst belügen, falsche Sühne leisten, die Schuld auf andere schieben. Ihre Herzen, Mördergruben: „Immer hintenherum, die Juden“, oder: „Komische Leute waren das. Fahren weg und verabschieden sich von keinem Menschen“, oder: „Ich hab sie sehr gern gehabt, auch wenn sie eine Jüdin war.“ Sie, das ist Jakob Kellermanns Tochter Ilse, die von einem Büttelsburger Braunhemd geschändet wurde und aus Verzweiflung und Verlassenheit den Freitod suchte. Ihr älterer Bruder Richard, verraten und im KZ erschlagen. Kellermanns Laden, arisiert. Die Täter leben noch, im Roman. Sie kommen darin zu Tode. Aber es zeigt sich, Buße ist nicht Reue. Denn der Sarg steht weiterhin dort, wo einmal der Hauptplatz war, lange nachdem die letzten Büttelsburger — unter ihnen das Apothekerehepaar, die einzig Gerechten, und der Pfarrer, der einzig Verstehende — den Ort verlassen haben, lange nachdem die Häuser verfallen sind, lange nachdem die Natur von ihnen Besitz ergriffen hat. Das wirkliche Wunder von Büttelsburg bleibt also aus. Es gibt keine Wiedergutmachung, nur eine Kette von neuem und altem Unrecht, eine Abfolge von Särgen, die sich nicht begraben lassen, und wenn doch, dann springen sie aus den Gräbern, weil „Geschehenes, längst Abgetanes, wieder geschieht und wieder, immer wieder geschieht, ohne Ende“. So steht es im „Nach- und Vorbericht“ des Romans, trotzdem redet sein Autor nicht dem Fatalismus das Wort. Er meint eher: Wir müssen Böses seiner selbst willen bekämpfen, ohne Aussicht auf Erlösung, Schadensbegrenzung oder Belohnung. In Büttelsburg haben sich, im Gefolge der Aufregung um den Sarg, auch ein paar junge Menschen zusammengetan, die wissen wollen, wie alles gekommen ist. Einer von ihnen ist der Sohn des Bürgermeisters. Er erfährt, wie tief die eigenen Eltern in die Verbrechen an der Familie Kellermann verstrickt sind. Der Schmerz darüber treibt ihn in die Ferne. Aber der Pfarrer, durch den der Autor spricht, will ihn zurückhalten: „Tu dein Werk in Büttelsburg. Hier grabt die Wahrheit aus!“ Fritz Kalmar, den wir heute ehren, hat viele Prosastücke geschrieben, die um Erinnern und Exil kreisen. „Das Wunder von Büttelsburg“, das ich als Testament zu Lebzeiten lese, ist im Gegensatz zu seinen Heimwehgeschichten aus Südamerika kaum wahrgenommen worden. Nicht nur deshalb habe ich es an den Beginn gestellt — mit der Forderung, herauszufinden, was bei uns in Büttelsburg geschehen ist, nicht auszuweichen in Ersatzhandlungen anderswo, treffen sich Preisträger und Preisgeber, der exilerfahrene Schriftsteller Fritz Kalmar und die von der Gegenwärtigkeit seines Schreibens überzeugte Theodor Kramer Gesellschaft. Um sie brandet ein Meer von Stimmen, die lauthals Klage führen über das ach so himmelschreiende Vergessen und vor lauter Jammern nicht dazu kommen, die Vergessenen, Verschwiegenen endlich wahrzunehmen. Dabei ware es so einfach: Kalmars Erfahrungen zu suchen, ihn anzuhören, seine Bücher zu lesen. Mit der sorgfältigen Personenzeichnung, der Darstellung eines überschaubaren Kosmos, dem Sinn für Humor und Situationskomik sprengt „Das Wunder von Büttelsburg‘“ die Grenzen der Parabel, der literarischen Fallstudie. Es ist auch kein autobiografischer Bericht, wenngleich der Autor schon bei seiner ersten Reise ins wiedererstandene Österreich, im Winter 1957, Gelegenheit hatte, die Büttelsburger Gemeinde kennenzulernen. Kalmar und seine Frau gingen damals in Genua von Bord und nahmen den ersten Zug nach Wien. Nach der Grenze, bei Arnoldstein, keuchte eine Frau ins Abteil, setzte sich und fragte, nach einem Blick auf die Überseekoffer, woher sie denn kämen. Aus Uruguay, Südamerika. Südamerika! Und wie lang sind Sie schon dort? Seit 1939. Hinter der Stirn der Frau, erzählt Kalmar, begann etwas zu rattern, Jahreszahlen und Ereignisse wurden abgespult, und gleich darauf sagte die Frau: Ah, da haben Sie ja gar nichts mitgemacht. Den Krieg, die Entbehrungen. Ja, nichts mitgemacht, höhnt der feine, zarte, höfliche Fritz Kalmar. Sein Vater war schon 1927 gestorben, der Mutter und den drei Brüdern gelang die Flucht. Ihr Schicksal unterscheidet sich also von dem der Familie Kellermann. Trotzdem gibt es eine Übereinstimmung im Detail: Im Roman wird Richard Kellermann verhaftet, weil das Hausmädchen im Gemeindeamt meldet, daß er Karikaturen des Führers angefertigt habe — wie Kalmars Cousin Richard Hönich, der seine Zeichnungen in der Schreibtischlade aufbewahrt hatte. Die langjährige Haushälterin der Familie hatte dies den Behörden verraten. Die Nazis prügelten den jungen Hönich halbtot, übergossen ihn im kalten November mit Wasser, schleppten ihn dann nach Dachau. Zwei Wochen später kam die Nachricht: An Lungenentzündung verstorben. Richards Vater wollte die Urne nicht haben. Wer beweist mir, daß seine Asche darin ist, und nicht die eines Hundes. Drei Jahre später wurden Kalmars Onkel und Tanten nach Riga deportiert. Es hält sich das Gerücht, daß sie Giftkapseln bei sich trugen. Hoffentlich ist es ihnen noch gelungen, sie einzunehmen, sagt Fritz Kalmar. Ich würde es ihnen wünschen. Kalmar ist promovierter Jurist. Er machte das Gerichtsjahr, dann arbeitete er in der Anwaltskanzlei Dr. Graus. Nach der 45