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Annexion Österreichs mußte Graus sein Büro schließen, er konnte sich später nach Shanghai retten. Fritz Kalmar war einige Monate lang in der Buchhaltung seines Onkels tätig. Die Häuseradministration Hönich stand bereits unter kommissarischer Verwaltung eines SS-Mannes, es ging um die reibungslose Abwicklung des Unternehmens. Eines der verwalteten Häuser gehörte dem norwegischen Reeder Harald Stange, der Fritz als Seemann unter Vertrag nahm. Auch dessen jüngstem Bruder, Heinz, verhalf Stange auf diese Weise zur Ausreise aus dem Dritten Reich. Das erste Exilland war Bolivien, wo Fritz bereits von seinem anderen Bruder Ernst erwartet wurde. Als auch die Mutter nachkommen durfte, war die Familie komplett. La Paz bot den exilierten Österreichern wenig Entfaltungsmöglichkeiten. Zuerst arbeitete Kalmar bei seinem Bruder, der Lampenschirme fabrizierte, dann als Maler und Anstreicher, erfolgloser Annoncenakquisiteur und Radiosprecher. Die Bekanntschaft mit dem Regisseur und Dramatiker Georg Terramare und dessen Frau, der Schauspielerin Erna Terrel, wurde bestimmend für sein weiteres Leben. Sie bestritten kulturelle Veranstaltungen, die das Heimweh nach Österreich lebendig hielten. Und nicht nur das, sagt Fritz Kalmar: Wir weckten es in denen, die aufgrund der erlittenen Qualen und der Enttäuschung über das Verhalten ihrer Landsleute von Österreich nichts wissen wollten. Wir, das war die Federaciön de Austriacos Libres, die Kalmar bis zu ihrer Auflösung zwei Jahre nach Kriegsende leitete. Terramare starb 1948, Kalmar und Erna Terrel wurden ein Paar. 1953 heirateten sie und übersiedelten nach Montevideo, an den Rio de la Plata, wo die Menschen offen waren, der Horizont weit. Ich vermute, Fritz Kalmar wäre unter den ersten gewesen, die nach Kriegsende nach Österreich zurückkehrten, auch wenn nie eine offizielle Einladung an die Vertriebenen erging. Aber man hörte von Menschenraub durch die sowjetischen Besatzer, Terramare war als angeblicher Monarchist — als k.u.k. Republikaner im Grunde seines Herzens — von einem Reemigranten angefeindet worden, und Erna Terrel befürchtete deshalb Unannehmlichkeiten. Später dann reichte das Geld nicht, und noch später fand sich das Ehepaar mit seinen zwei halben Heimaten ganz gut zurecht. Als Kalmars Brüder Anfang der siebziger Jahre mit ihren Familien nach Österreich zurückkehrten, fragte er seine Frau: Meinst du nicht auch, daß es an der Zeit wäre, und sie antwortete, nach Österreich gern, so lang wie möglich und so oft wie möglich, aber immer wieder zurück in unser geliebtes Uruguay. Erst nachdem sie einen Schlaganfall erlitten hatte, träumte Erna Terrel davon, für immer nach Wien zu gehen. Da war es zu spät. Dann starb sie, und Kalmar war allein. Er hat Grund zur Annahme, daß er einen kalten Winter in Österreich nicht überleben würde. Trotzdem würde er es riskieren, auf Teufel komm raus. Anders als die Hutmacherin Finnerl, die Protagonistin einer seiner Geschichten, fühle er sich in Südamerika nämlich nicht „wie zuhaus“. Es sei ihm nie gelungen, seine heimatlichen Gefühle in die andere Kultur zu iibersetzen. Was ihn dort halte, sei seine uruguayische ,,Ersatzfamilie“ — ein jiingeres Ehepaar mit Kindern. Da muß ich an Kalmars Erzählung „Der Tränensucher“ denken, die sich in seinem neuesten Buch mit ,,Geschichten von lauten und leisen Leuten“ findet. Sein Held hat alles im Leben falsch gemacht, so hat er zwar einen Haufen Geld, aber keinen, der ihm auch nur eine Träne nachweinen wird. Bei Fritz Kalmar ist es genau umgekehrt. Daß wir ihn so sehr lieben, hüben wie drüben, führen wir gegen seine Gewißheit ins Treffen, nur eine Heimat zu haben. Die schon erwähnte Föderation Freier Österreicher hatte auch materielle Hilfe geleistet. Während des Krieges gingen die Einnahmen der Theateraufführungen und Bunten Abende an das Rote Kreuz, nach Kriegsende wurden hungernde Kinder und Künstler in Österreich mit Carepaketen direkt aus Bolivien unterstützt. Eines der ersten Pakete schickte Fritz Kalmar an eine Frau namens Maria Vlahovic, die in der Häuseradministration Hönich gearbeitet und ihm dort wahrscheinlich das Leben gerettet hatte: SA-Männer auf Judenfang rüttelten zur Mittagszeit an der Bürotür, und Frau Vlahovic hielt sie so lange hin, bis Kalmar durch den Hinterausgang entwischen konnte. 1999, als „Das Wunder von Büttelsburg“ erschien, war sie schon Mitte achtzig. Sie schickte mir das Buch mit der inständigen Bitte, es doch in einer Zeitung zu besprechen. Ich rief sie im Pflegeheim an, sie war diskret und bescheiden, erwähnte die Episode mit keinem Wort. Hingegen erinnerte sie sich an einen merkwürdigen Silvestertag 1938, den sie mit Kalmar verbracht hatte. Von ihm erfuhr ich dann, daß sie wenige Monate nach unserem Gespräch verstorben war. Auch diese Maria Vlahovic gehört zu Büttelsburg. Hier hat sie ein kleines Wunder bewirkt. Fritz Kalmar hat es nicht vergessen. Es war schon eine Überraschung, als vor ein paar Monaten ein Anruf aus Österreich kam und ein Herr, der sich mit landfremder Titellosigkeit als „Karl Müller“ vorstellte, mir mitteilte, die Theodor Kramer Gesellschaft habe beschlossen, ihren Literaturpreis für das Jahr 2002 Herrn Alfredo Bauer und mir zu verleihen. Alfredo Bauers Name war mir längst bekannt, das stimmte gewiß. Aber ich? Natürlich fragte ich sogleich „Wofür? Womit hätte ich das verdient?“ Nun, der keinewegs titellose Universitätsprofessor Dr. Karl Müller 46 kannte als Vorsitzender der Gesellschaft die Gründe der mich ehrenden und überraschenden Entscheidung — es war schon richtig, ich war gemeint. Daß ich aus klimatisch-gesundheitlichen Gründen der Preisverleihung nicht beiwohnen kann, tut mir außerordentlich leid. Ich schlug dem für die Veranstaltung mitverantwortlichen Freund Konstantin Kaiser eine Verschiebung vor. Die erwies sich jedoch aus organisatorischen Gründen als unmöglich, und so kann ich Ihnen nur auf schriftlichem Wege für diese Ehrung danken.