OCR
Eine der verbreiteten Illusionen der Nachkriegszeit bestand darin, an das Jahr 1945 als einen Nullpunkt, einen völlig neuen Anfang zu glauben. Die Mär vom Nullpunkt beruhigte unter anderem auch die Sorge über das rasche Erlahmen der Verfolgung von Naziverbrechen, schienen diese doch in einer früheren Periode unter mittlerweile völlig gewandelten politischen und kulturellen Voraussetzungen begangen worden zu sein. Ohne jene angebliche „Siegerjustiz“ jedoch, die im Nürnberger Prozeß führende Männer des NS-Regimes zum Tod oder zu langen Freiheitsstrafen verurteilte, hätte sich ein Bewußtsein begangenen Unrechts noch zaghafter herausgebildet. Die Bestrafung von Naziverbrechen war aber nicht nur aus pädagogischen Gründen notwendig, nicht nur, um es strafrechtlich zu sagen, aus Gründen der Generalprävention, sondern schlicht und einfach darum, um die Fortsetzung der Verbrechen zu verhindern. Ein Beispiel für die Fortsetzung von NS-Verbrechen bis in die jüngste Vergangenheit ist der von Marcelino Fontän und Erich Hackl in diesem Heft dargelegte Fall Menghin. Oswald Menghin verstand es, sich nach 1945 einer Bestrafung zu entziehen; wie andere prominente Nationalsozialisten verlegte er sein Wirkungsfeld nach Südamerika. Menghin, von 1918 bis 1945 hochangesehener Professor für Urgeschichte an der Universität Wien, wirkte, könnte man sagen, bloß mit geistigen Waffen. Für ihn bestand eine ursächliche Verbindung zwischen den Menschenrassen und ihren Kulturen; höhere Rassen brachten eben höhere Kulturen hervor. Seine akademischen Widersacher bekämpfte er mit den traditionellen Mitteln seines Standes, mit Personalpolitik, der Besetzung universitärer Positionen mit gleichgesinntem Klientel, fallweise vielleicht mit der Denunziation Unbequemer bei der vorgesetzten Behörde. Er ging nicht mit physischer Gewalt gegen seine Gegner vor: Dafür standen andere bereit. Schlägt man das repräsentative, 1995 erschienene Österreich Lexikon auf, wird man in zwölf Zeilen über Menghins Lehrtätigkeit und seine wichtigsten Publikationen informiert. Daß er eine bedeutende Rolle als sogenannter „Brückenbauer“ zwischen dem politischen Katholizismus in Österreich und dem Nationalsozialismus gespielt hat, entnimmt man nur einer harmlos anmutenden Anmerkung: ‚,... 11.-13. 3. 1938 Mitgl. der letzten ö. Bundesregierung (Seyß-Inquart) vor dem Anschluß.‘‘ Es hört sich an, als hätte sich der kurzzeitige Unterrichtsminister Menghin an einem letzten verzweifelten Versuch beteiligt, Österreich vor dem Zugriff Hitlerdeutschlands zu bewahren, statt dem „Anschluß“ ein legales Mäntelchen umzuhängen, was in Wahrheit die Aufgabe der Regierung Seyß-Inquart war. (Arthur Seyß-Inquart, Reichsstatthalter der Niederlande, wurde 1946 in Nürnberg gehängt.) Ein vergleichbarer Fall ist der des rumänisch-französischen Essayisten E.M. Cioran, der, anders als Menghin, auf einen großen Leserkreis bis heute einige Faszination ausübt, freilich nicht mit seiner Verklärung Rumäniens (1936), in der er sich als Ideologe der faschistischen ‚Erneuerung? seines Vaterlandes profilierte. Heinrich Stiehler porträtiert den gegenwärtigen Stand der Diskussion um Cioran. Höher noch als ein endlich zu einer weltgeschichtlichen Mission erwachtes Rumänien dürfte Cioran Hitler und sein Deutschland geschätzt haben, wo er in der Nazizeit mit einem deutschen Stipendium Philosphie studierte. Ausgehend von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler und Ludwig Klages, zeichnet sich Ciorans philosophierende Essayistik durch eine erstaunliche Kontinuität zentraler Denkmotive über historische und biographische Brüche hinweg aus. Von besonderem Interesse scheinen hierbei die in der Nachkriegsperiode erfolgenden Umpolungen des bereits ausgebildeten Gedankenmaterials. So wandelt sich z.B. der Manichäismus Ciorans vom antihumanistischen Aktivismus der 1930er Jahre zur resignierend-pessimistischen Einsicht in die Verfehlte Schöpfung (1969). Erhalten geblieben ist die antiaufklärerische Intention Ciorans. Einer seiner Apologeten schreibt, Ciorans Rede vom „Bewußtsein als Verhängnis‘ kommentierend: „In Umkehrung der bekannten, noch im aufklärerischen Geist geschriebenen Freudschen Maxime ‚Wo Es war, soll Ich werden’ könnte Cioran mithin sagen: ‚Wo Ich war, soll Es werden!’“ Der Verfasser der Zeilen, Richard Reschika, meint also, die Bildung des Zeitalters sei mittlerweile über den „aufklärerischen Geist“ hinweggeschritten. Mehr schon in den Bereich des Kabarettistischen gehört, daß Reschika sich u.a. als „Kustos des Friedrich-Nietzsche-Museums in Sils-Maria“ betätigt. Über Macht und Ohnmacht der Literatur, über ihre Wirksamkeit als Waffe oder als Beruhigungsmittel wurde schon oft gestritten. Das Franz Kain Kolloquium 2001 in Innsbruck beschäftigte sich mit einer anderen Frage, mit der nach der Ohnmacht in der Literatur. Nicht der Ohnmachtsanfall der Kleistschen Marquise von O... und seine Folgen waren damit gemeint, sondern das Schreiben über Zustände sozialer und politischer Ohnmacht, das Aufdecken der in der Alltäglichkeit routiniert verborgenen Ohnmacht und schließlich auch die Empörung gegen die Ohnmacht. Aus der Perspektive des eigenen Schreibens versuchten Hans Augustin, Eugenie Kain, Konstantin Kaiser, Elisabeth Reichart, Vladimir Vertlib und Erika Wimmer Auskunft über die nicht gerade landläufige Fragestellung zu geben. Es erwies sich, daß alle Beteiligten in ihrem Schreiben von dem dunklen und oft peinlichen Komplex der Ohnmacht viel stärker tangiert sind, als man zunächst wahrhaben hätte wollen. Daß das Problem der Ohnmacht auch in der Exilliteratur untergründig eine große Rolle spielt, führte Siglinde Bolbecher aus, während Erich Hackl und Wulf Kirsten den in Westösterreich weniger bekannten Schriftsteller Franz Kain vorstellten. Mitleid (Thema des Franz Kain Kolloquiums 2000 in Linz), Ohnmacht, Vertrauen (voraussichtlich das nächste Thema, 2003) sind Begriffe, die in der heutigen Literaturkritik und -wissenschaft allenfalls eine marginale Rolle spielen. Und doch scheinen sie gewissermaßen Knotenpunkte, an denen der allgemeine historische, soziokulturelle Prozeß in den literarischen umschlägt oder umschlagen kann. Aktualisiert wird die Fragestellung noch durch einen Diskurs der Mitleidlosigkeit und der sozialen Anästhesie (Empfindungsunvermögen), der unter Berufung auf die Realität einer neuen Weltordnung die Anpassung der Denkgewohnbeiten fordert. Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser