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Die Meldungen über die politischen Ereignisse in Österreich zu Beginn dieses Jahrhunderts riefen mir die frühen sechziger Jahre in Erinnerung, in denen ich an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Buenos Aires Anthropologie studiert hatte. Damals galt das rege Interesse von uns Studenten den Entkolonisierungsprozessen in Afrika und Asien. Überhaupt haben die Kämpfe dieser Völker um Menschenwürde meine Generation unmittelbar berührt. Sie waren auch einer der Gründe für unsere Entscheidung, gerade dieses Studienfach zu wählen. Umso verblüffter waren wir vom Diskurs der Lehrenden, und es dauerte einige Zeit, bis wir in der unter ihnen vorherrschenden Theorie gedankliche Strukturen wahrnahmen, die sich zur Rechtfertigung kolonialistischer Politik perfekt eigneten. Die Fächer, in denen sie besonders gepflegt wurden, waren Allgemeine Ethnologie und Urgeschichte der Alten Welt. Hier lehrten der Italiener Marcelo Börmida und der Österreicher Oswald Menshin, die als Vertreter der sogenannten kulturgeschichtlichen oder Wiener Schule galten. Das Konzept des Zivilisationsprozesses, das sich von ihren Lehrstühlen aus manifestierte, verband Rasse und Kultur eng miteinander, wobei es sich auf die These stützte, daß gewissen Völkern Begabungen eigen waren, die sie gegenüber anderen hervorhoben. Diese Behauptung erschien uns nicht nur überholt, sondern auch eindeutig unwissenschaftlich, denn andere Forschungen — deren Ergebnisse uns in den Vorlesungen und Seminaren von Börmida und Menghin vorenthalten wurden — hatten eindeutig den Beweis erbracht, daß es erstens unmöglich sei, das Konzept der Rasse aufrechtzuerhalten (das überdies durch Sekundärmerkmale wie Augenfarbe, Haarfarbe, Hautfarbe oder Aspekte des Körperbaus oder eines Teils desselben definiert wurde), und daß zweitens in allen Gruppen von Menschen längst ein umfassender Verschmelzungsprozeß stattgefunden habe. Und schon gar nicht ließen sich die erwähnten physischen Besonderheiten mit psychischen Eigenschaften verbinden, so wie Menghin in seinem Buch Origen y desarrollo racial de la especie humana („Ursprung und rassische Entwicklung der Gattung Mensch“, Editorial Nova, Buenos Aires 1964) behauptete: „In der Tat besteht kein Zweifel daran, daß der Begriff der Rasse auch seine Auswirkungen auf die Welt der Psyche hat.“ Wir spürten, daß dieser Diskurs, der sich als religiös und antievolutionistisch ausgab, ideologisch außerdem von einem starken Rassismus gefärbt war. 1965 erreichten wir, eine Gruppe von Studenten, die sich der rassistischen Botschaft der kulturgeschichtlichen Schule widersetzte, daß das Studienfach von seiten der Fakultät unter akademische Aufsicht gestellt wurde, und zwar unter die des Professors Norberto Rodriguez Bustamante. Wir wollten Parallellehrstühle mit anderer Ausrichtung in den Grundmaterien. Gleichzeitig bemühten wir uns über Daniel Hopen, den Studentenvertreter im Akademischen Rat der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, an Informationen über das Vorleben von Professor Menghin heranzukommen, aus den Jahren vor seinem Eintreffen in Argentinien. Daniel — der jüdischer Herkunft war — setzte sich mit der American Jewish Association in Verbindung. Von ihr erhielt er einen umfangreichen Akt mit Kopien von Zeitungsausschnitten aus der Zeit der Annexion Österreichs, in denen Menghin als Minister des Kabinetts Seyß-Inquart aufschien, und Fotos von seinen öffentlichen Auftritten, bei denen die Brüstung vor ihm mit der Hakenkreuzfahne verhängt war. Es erwies sich also, daß dem Lehrkörper der Universität Buenos Aires ein außerordentlicher Universitätsprofessor angehörte, der während des Anschlusses an Nazideutschland im Jahr 1938 österreichischer Unterrichtsminister gewesen war. Doktor Oswald Franz Ambrosius Menghin Terzer, geboren 1888 in Meran, Südtirol, war 1948 über Franco-Spanien nach Argentinien gekommen. Ende des Zweiten Weltkriegs hatten viele nazistische und faschistische Wissenschaftler hier Zuflucht gefunden, unter ihnen eine große Gruppe von Anthropologen und Prähistorikern. Mit dem Ziel, die akademische Eingliederung dieser Emigranten zu erleichtern, hatte die argentinische Regierung in Rom ein Büro eingerichtet, das in Buenos Aires durch die sogenannte Comisiön Peralta ergänzt wurde. Diese Kommission unterstand der Generaldirektion für Einwanderungsangelegenheiten und existierte zwischen 1947 und 1950. Ihr gehörte nebst anderen Jacques Marie de Mahieu an, ein französischer Soziologe und ehemaliger Offizier der Division Charlemagne der Waffen-SS, der 1946 nach Argentinien gekommen war und an den Universitäten von Buenos Aires und Cuyo Vorlesungen hielt. Als sein Fall 1974 von Simon Wiesenthal aufgedeckt wurde, leitete er gerade das Institut für die Wissenschaften vom Menschen in der Calle Cangallo 2158. Die Ankunft besagter Reisender hatte zur Folge, daß zahlreiche lokale Wissenschaftler versetzt wurden oder überhaupt ihre Arbeitsplätze verloren. Das Institut für Anthropologie an der Universität Buenos Aires nahm den Italiener Marcelo Börmida 1946 und zwei Jahre später Oswald Menghin auf; Vradimiro Male übernahm das Anthropologische Institut von Tucumän im Jahr 1948, und De Ferdinand kam in Mendoza zu akademischen Ehren. Die argentinische Regierung akzeptierte also nicht nur Wissenschaftler in Disziplinen, deren Lehre und Forschung zur Förderung der industriellen Entwicklung des Landes für nötig erachtet wurden; sie nahm auch Human- oder Sozialwissenschaftler, und deren Präsenz blieb im Kulturleben, speziell im Bereich der Universitäten, nicht ohne Folgen. Abgesehen von der eisernen Kontrolle, die Menghin und Börmida im Institut für Anthropologie der Universität Buenos Aires ausübten, war ersterer auch noch Professor an der Universidad Nacional von La Plata. Menghins Einfluß und der seiner Schule beschränkte sich nicht auf das Gebiet der Theorie; er erstreckte sich auch auf die Ausbildung, und das — mit autoritärem Gehabe — über beinahe dreißig Jahre. Im direkten oder indirekten Zugriff auf das Geschehen im Institut akzeptierten er und Börmida weder den ideologischen Pluralismus noch die Freiheit der Forschung. Ihr Diskurs und die ihn begleitende Praxis beeinflußten eine ganze Generation von Archäologen und Anthropologen in Argentinien. Man muß aber auch feststellen, daß sie Widerstand hervorriefen und gegen ihren Willen von einer ganzen Schar kritischer Anthropo