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Nur wenige Monate nach dem Verlust von Walter Huder hat die Exilforschung den Tod einer weiteren Persönlichkeit zu betrauern. Ihr Doyen, Ernst Loewy, starb am 17. September 2002 in Frankfurt am Main. Die Lebensgeschichte von Ernst Loewy, der in der Weimarer Zeit, am 25. April 1920, in der niederrheinischen Provinzstadt Krefeld, in einem wohlbehüteten Elternhaus des jüdischen Mittelstandes geboren wurde, ist ungewöhnlich — physisch wie wissenschaftlich. Der sozialdemokratisch gesinnte Vater, der sich als guter Deutscher fühlte und stolz darauf war, am Ersten Weltkrieg teilgenommen zu haben, stammte von böhmischen Landjuden ab, die Familie der Mutter hingegen lebte seit Generationen in Krefeld. „Reisender Kaufmann“ nannte Loewy rückblickend seinen Vater. Nach der Einschulung in die jüdische Volksschule zu Krefeld folgte von 1930 bis 1935 der Besuch des deutschnational geprägten dortigen Realgymnasiums (heute Gymnasium am Moltkeplatz), wo er sogleich — zumindest unter der Lehrerschaft - deutliche Anzeichen für einen neu sich erhebenden Antisemitismus erkannte. Ende 1935 hatte das antisemitische Treiben solche Formen angenommen, daß der 15jährige die Schule ohne Abschluß verließ. Scharfsichtig nahmen Loewys Eltern die Gedanken Bertolt Brechts vorweg, der in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ sagte: „Damit man herausbringt, ob man schon heut fliehen muß oder erst morgen fliehen darf, ist eine Intelligenz nötig, mit der man noch vor ein paar Jahrzehnten hätt ein unsterbliches Werk schaffen können.“ Weitsichtig erkennend, daß der Jugendliche in Deutschland hochgradig gefährdet war, schickten sie ihn im Frühjahr 1936 mit der von Recha Freier gegründeten Organisation Jugend Alijah nach Palästina. Die ersten zwei Jahre verbrachte Loewy im Kibbuz Kirjath Anavim in der Nähe von Jerusalem, wo er die Bekanntschaft mit dem Berliner Zahnarzt und Schriftsteller Conrad Rosenstein machte, der ihn in den Bann von Thomas Mann zog. (Die Studie „Thomas Mann und das deutsche Bürgertum“ erschien übrigens 1947 in Willy Verkaufs Zeitschrift Erbe und Zukunft in Wien.) Während dieser Zeit in Erez Israel berichtete er den Eltern - sie folgten unmittelbar nach der sogenannten „Reichskristallnacht‘“ nach Palästina — fast wöchentlich über seine Eindrücke und Erkenntnisse. In einem Brief vom April 1936 hielt er fest: „Mit ähnlichen Gefühlen muß ein Mensch in seine Heimat zurückkehren, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hat. Ich sah mein eigentliches Vaterland das erste Mal, und noch etwas anderes, etwas Großes sah ich das erste Mal. Den jüdischen Arbeiter, durch den das schlechte Land wieder zu einem Land wird, wo Milch und Honig fließt.“ Die Euphorie währte nicht lange, denn im Kibbuz Kirjath Anavim, der politisch der rechten Sozialdemokratie nahe stand, war das „geistige Klima bieder“, was auf Loewy enttäuschend wirkte. Im späteren Rückblick milderte Loewy seine Meinung dazu. Die Leiterin des Exilarchivs der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main, Britta Eckert, hat Loewys damalige Briefe, vorzüglich eingeleitet und kundig kommentiert, herausgegeben. Es handelt sich um ein beredtes Zeugnis der Erinnerung, fast ein Tagebuch. Logisch, daß Loewy, von sozialistischen Ideen und vom Bildungshunger gepackt, die nächstbeste Gelegenheit wahr nahm, um aus dieser geistigen Enge „auszubrechen“. 1938 erfolgte die Übersiedlung nach Tel Aviv, wo er im Frühjahr eine Lehrstelle in einer deutschsprachigen Buchhandlung antrat. Erneut folgte eine herbe Enttäuschung, denn selbst im Buchhandel herrschte vordergründig Kommerz, aber immerhin ersetzten dem jungen Loewy die Bücher das ersehnte Studium, zu dem ihm leider alle Voraussetzungen, nämlich Geld und Hochschulreife fehlten. Neben Thomas Mann verschlang er die Werke von Goethe, Heine, Nietzsche und Freud. Ihm fielen die Neuerscheinungen der Exilverlage Querido, Allert de Lange etc. in die Hände, also die Romane von Klaus Mann, Feuchtwanger, Seghers, Kesten, Joseph Roth oder Arnold Zweig. Die Beschäftigung mit der Exilliteratur war für Loewy im Werden begriffen. Exilzeitschriften brachten ihm die Auseinandersetzung mit der Frage ,,Was soll aus Deutschland werden?“ nahe. In seinem BewuBtsein festigten sich Grundthesen wie diese, daß „Deutschland nicht Hitler‘ sei und es ein „anderes Deutschland“ gebe, „das es aus der Vergangenheit in die Zukunft hinüberzuretten gelte“. Mag sein, daß es sich bei Loewys „Vorstellung von einem anderen, wahren Deutschland“ um eine „Illusion“ handelte, wie Felix Schneider bemerkte und fortfuhr, „aber dennoch oder vielleicht gerade deswegen entfaltete sie ihre Kraft für diejenigen, die sie zum Leben und Arbeiten brauchten.“ Jean Amery hat seine Gedanken dagegengesetzt. Spätestens 1941, mit dem deutschen Überfall auf das verbündete Sowjetreich, entwickelte Loewy einen Glauben an die Sowjetunion. Nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 war schließlich die UdSSR die einzige Großmacht, die an einer pro-israelischen Politik festhielt. Wie hätte Loewy auch ahnen oder gar wissen können, daß dieselbe Sowjetunion nur wenige Monate später das Jüdische Antifaschistische Komitee, an seiner Spitze standen vor allem Schriftsteller (Ilja Ehrenburg war dabei), Schauspieler und andere Künstler, verhaften und zum Teil liquidieren sowie die jüdische Kultur zerschlagen würde? Dazu Loewy: „Ich muß gestehen, ich verstand das alles nicht, wollte es nicht verstehen und wußte doch, daß es so war. Vom Umfang und von der Tragweite des GULAG hatte ich noch keinen Begriff.“ Ein Utopieverbot für den uralten Menschheitstraum oder gar ein Büßerhemd, legte er sich deshalb aber nicht zu. Die Wirklichkeit in Loewys Leben sah zunächst so aus, daß er von 1942 bis Ende 1943 als Zivilangestellter der britischen Armee in und bei Tel Aviv arbeitete. Dem Weltkriegsende entgegenfiebernd, übte er ab 1943 verschiedene Tätigkeiten aus, bis 1948 war er kaufmännisch tätig, 1948 bis 1949 zog ihn die gerade gegründete israelischen Armee ein. Dazwischen, 1945, heiratete er Rega (Regina) Schaller, eine Schwarzwälderin, die ebenfalls mit der Jugend Alijah nach Palästine gekommen war und sich an der Kunstschule in Bildhauerei, Zeichnen und Aquarellieren ausbilden ließ. Beide hatten sich bereits 1940 kennengelernt. Neben seinem Broterwerb betätigte er sich für die von ihm mitredigierte, linksorientierte Zeitschrift Heute und Morgen - Antifaschistische Revue, die in Tel Aviv erschien und 13