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Dieser Vortrag, gehalten für das Institut für die Geschichte der Juden in Österreich am 14. November 2002, enthält die ganz persönlichen Sichtweisen des Autors, der weder als ein Vertreter der Claims Conference noch im Namen des Staates Israel, der seine Heimat und sein Zuhause geworden ist, gesprochen hat. — Für ZW bearbeitet von Primavera Gruber. Ich behaupte heute, daß der Holocaust noch nicht zu Ende ist. Selbstverständlich - es ist zu einem offiziellen Kriegsende gekommen; aber die Gefahr der Vernichtung des jüdischen Volkes und des Staates Israel, wo viele Zuflucht und eine neue Heimat gefunden haben, diese Gefahr ist nicht gebannt — weder physisch noch psychisch. Ich werde Ihnen diese traurige These im Laufe des Abends anhand einiger Argumente und Berichte zu begründen suchen. Als kleiner Junge habe ich im März 1939 Wien verlassen und die Eltern und meine Schwester Gertrud hier zurück gelassen. Alle sind dann später den Leidensweg über Theresienstadt nach Auschwitz gegangen, wo sie im Januar 1943 in den Gaskammern ermordet wurden. Ich hätte mir nicht im Traum gedacht, daß mich das Schicksal 1999 nach Wien ,zurückschlagen’ würde — als Vertreter der Claims Conference, wo ich mich für Gerechtigkeit gegenüber den Überlebenden oder ihren Erben einsetzen konnte. Dabei möchte ich betonen, daß ich mich persönlich früher immer gegen jedes Abkommen einer Geldentschädigung des jüdischen Volkes für die Shoah ausgesprochen habe. Denn ich war immer der Ansicht — und ich bin es noch heute -, daß es keine Wiedergutmachung gibt: Man kann die Menschen, die ermordet wurden, nicht lebendig machen, und man kann den Menschen, die diese schrecklichen Bilder in ihren Seelen tragen, diese Erinnerungen nicht mit Geld entschädigen. Aber im Lauf meiner Tätigkeit im American Joint, wo ich für die jüdischen Gemeinden in Osteuropa verantwortlich war und vielen Menschen begegnet bin, wurde mir klar, daß man mit Geld immerhin die Lebensqualität der Überlebenden verbessern und so ihre letzten Jahre angenehmer für sie gestalten kann. Das war der Grund, warum ich dann doch einen Kreis geschlossen habe und im fortgeschrittenen Alter nach Wien zurückgekehrt bin, um mich hier für Gerechtigkeit einzusetzen. Es war nicht mein Entscheidung, als Jude geboren zu werden; ich nehme an, daß es Gottes Wille war. Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich mich und diesen Willen Gottes verteidigt. In meinen Kindheitsgebeten fragte ich nie: ,,Oh lieber Gott, warum wurde ich als Jude geboren?“ Heute stehe ich hier und darf Ihnen sagen, daß ich auf dieses Schicksal und auf mein Judentum stolz bin. Und ich stehe hier — nicht mehr um mich zu verteidigen, sondern vielmehr um Sie teilhaben zu lassen an der allmählichen und mittlerweile beinahe vollständigen Desillusionierung. Trotzdem bin ich weder bitter noch hoffnungslos: Jede Enttäuschung macht auch klarer und ermöglicht eine neue Handlungsfähigkeit. Meine These, um die sich vieles hier dreht: Die arabische Welt wollte niemals einen jüdischen Staat Israel akzeptieren. Die Europäer haben nicht nur aus Überzeugung mitgeholfen, einen Staat Israel zu gründen, sondern auch, weil sie das 16 Problem der Diaspora loswerden wollten — und die Uberlebenden der Shoa. Dies gilt heute insbesonders für die Österreicher und die Deutschen. Doch auch auf die ambivalente Haltung der anderen europäischen Staaten schon während des Zweiten Weltkrieges möchte ich Ihr Augenmerk richten. Diese Ambivalenz war tödlich. Zum Beispiel auch für meine Familie. Persönliche Geschichte ist öffentliche Geschichte und das rechtfertigt diese Erzählungen; und unter diesem Blickwinkel bitte ich Sie, diese Bilder zu betrachten. Meine Damen und Herren, als Kind in Wien glaubte ich, Österreicher zu sein. Jeder ist stolz auf seine Heimat. Aber schon in der Volksschule haben mich meine Schulkameraden eines Besseren belehrt: „Hansi, ho ruck nach Palästina! Ihr Jesusmörder!“ Und: „Ihr reichen Juden“, obwohl bei mir zu Hause wenig Essen und Kleidung da waren, weil wir eine Arbeiterfamilie waren. Mein Vater, der ein stolzer Jude und frommer Sozialdemokrat war, hatte mich im Sommer einmal in ein sozialdemokratinern, wie die Kinder mich verspottet haben als Jude, und wie sehr ich ausgerechnet dort gelitten habe. Bis mein Vater sich schließlich an die Zentrale der sozialdemokratischen Partei gewandt hat mit den Worten: „Unter diesen Bedingungen hätte ich mein Kind auch in ein nationalsozialistisches Sommerlager schicken können!“ Daraufhin wurden die Lehrer gerügt und haben sich für mich eingesetzt; die Gemeinheiten und der Spott hörten auf, ich konnte den Sommer in diesem Lager verbringen. Ich erlebte hier in Wien die Abschiedsrede des damaligen Bundeskanzlers Schuschnigg, der mitgeteilt hat, daß das deutsche Militär in Österreich einmarschiert. Meine Eltern und ich hörten am Radio mit. Es war ein fürchterlicher Abend, der uns in großen Schrecken versetzte. Aber wie schrecklich die Vorstellungen auch waren, die wir uns gemacht haben, die Realität wurde noch viel schlimmer. Bei uns zu Hause gab es eine Hausdurchsuchung. Unsere Buchdruckerei wurde enteignet und konfisziert. Dann kam der Rausschmiß aus der Wohnung. Wir mußten von der Geibelgasse im damaligen 14. Bezirk in eine jüdische Sammelwohnung in die Reindorfgasse übersiedeln. Ich habe die Erniedrigungen der Juden, besonders der prominenten Juden — berühmte Ärzte, Schauspieler — miterlebt. Sie wurden von den Halbstarken in SA-Uniform im November 1938 im Morgengrauen, als schon der erste Schnee fiel, auf die Strassen gezerrt und mußten in Unterhosen turnen. Frauen und Greise wurden auf den Boden gestoßen und mußten mit ihren Zahnbürsten die Rinnen im Pflaster reinigen. Rundherum standen Leute und haben bei dem entwürdigenden Anblick gejubelt. All diese Erlebnisse veranlaßten mich wohl dazu, daß ich eines schönen Tages - ich war damals elf Jahre alt - den Wunsch hatte, Wien zu verlassen. Mein Vater schrieb viele Briefe ins Ausland. Er bat um ein Affidavit, um nach Amerika oder nach England ausreisen zu können. Das ist nicht gelungen. Aber ich habe eines schönen Tages mein Fahrrad genommen und bin vom 14. Bezirk in den 1. Bezirk in die Marc Aurel