OCR
Straße Nr. 5 geradelt, ins Palästina-Amt. Dort angekommen fragte man mich: „Ja, was willst du denn, kleiner Junge?“ Und ich sagte: „Ich möchte mit jemanden sprechen, damit er mir behilflich ist, nach Palästina auswandern zu können.“ Der Mann am Empfang hat gelächelt und zu mir gesagt: „Na gut, wenn du darauf bestehst, dann geh rauf in den dritten Stock.“ Dort hat mich ein sehr beeindruckender junger Mann empfangen. Ich weiß heute, daß er damals 23 Jahre alt war - ich kann mich an seinen Namen erinnern, er hieß Egon Markstein. Er fragte: „Was willst du, Junge?“ Und ich sagte: „Ja was will ich? Ich will nach Palästina auswandern. Ich habe hier nichts mehr zu tun.“ Er antwortete: „Du bist zu jung. Es gibt nur Jugendtransporte ab dem 15. Lebensjahr (das wurde JugendAliyah genannt). Aber weißt du was, ich notiere deinen Namen und ich werde mich daran erinnern für den Fall, daß es Transporte für Kinder in jüngerem Alter geben wird.“ Am Tag der Kristallnacht bin ich dann wieder ins PalästinaAmt geradelt. Ich wurde dort verhaftet, mit anderen Kindern zusammen; man hielt uns fest bis ungefähr drei Uhr nachmittags. Dann kam die Nachricht, daß Kinder unter 15 nach Hause gehen dürfen. Alle anderen mußten dort bleiben und wurden weiter von der Gestapo verhört. Am Weg nach Hause habe ich gesehen, wie in der Turnergasse unsere — meine — Synagoge gebrannt hat. Mein Großvater war dort einmal einer der Vorsteher. In meinen Kindheitsvorstellungen sagte ich mir natürlich: „Das darf doch nicht sein. Nun wird Gott erscheinen. Gott kann das nicht tolerieren, daß die Synagogen verbrannt werden, auf diese Art und Weise.“ Eines Tages hat Egon Markstein ein Telegramm zu uns nach Hause geschickt. Ich sollte ins Palästina-Amt kommen. Mein Vater eilte in die jüdische Sammelschule, wo wir zusammengepfercht Unterricht hatten, nachdem man uns aus unseren früheren Schulen hinausgeworfen hatte, und holte mich ab. Etwa 120 Kinder wurden von Herrn Dr. Lehmann, einem berühmten Schulleiter in Israel, ursprünglich Berliner, interviewt. Ich kann mich bis heute an die Fragen erinnern, die er mir gestellt hat. Denn diese Fragen und meine Antworten darauf haben mein Leben gerettet, was ich damals noch nicht wußte. Herr Dr. Lehman bat mich zunächst, ich solle ihm von Palästina erzählen, was ich wisse. Ich sprudelte los: „Herzl, Judenstaat...‘“ — alles, was ich in der Jugendbewegung gelernt hatte. Lehmann fragte dann u.a.: „Sag mir bitte — wer beherrscht eigentlich Palästina? Die Briten, die Engländer... Gibt es noch eine andere Nation, die einen Anspruch auf Palästina hat?“ Ich antwortete ihm: „Ja, die Italiener.‘ Es war die Zeit des italienisch-abessinischen Krieges; die Italiener behaupteten seit der Römerzeit, daß sie auch einen Anspruch auf Palästina hätten. Ich habe das mitbekommen, da ich auf dem Weg von der Schule nach Hause täglich an einem Zeitungsgeschäft stehen geblieben und die ersten Seiten der Zeitungen gelesen habe. Er fragte weiter: „Sag mir einmal — wer ist für uns Juden besser: die Engländer oder die Italiener?“ Und ich habe angefangen zu lachen und dann zu mir selbst gesagt: „Was lachst du, der wird noch glauben, du lachst ihn aus.“ Und er fragte wirklich: „Warum lachst du?“ Ich antwortete: „Herr Doktor, das ist doch selbstverständlich, die Engländer sind nicht mit Hitler verbunden, sie sind ein liberales Volk und das ist für uns selbstverständlich besser.“ Und daraufhin sagt er: „Du kannst nach Hause gehen.“ Ich bin nach Hause gegangen, und am nächsten Tag habe ich ein Telegramm bekommen, in dem stand, daß ich in zehn Tagen Wien verlassen und mit einem Kindertransport nach Palästina gehen würde. Moshe H. Jahoda, geb. 1926 in Wien. Im März 1939 mit einem Kindertransport nach Palästina, wo er zunächst in einem Kinderheim in Jerusalem, dann bis 1948 im Kibbutz Ein Gev lebte. 1946 Offizier der ‚Hagana’, dann Major in der israelischen Armee. M.A. in Öffentlicher Verwaltung (cum laude) am Institute for Social Studies in Den Haag, Niederlande. Vizegeneraldirektor im Landwirtschaftsministerium, Botschaftsrat für Wirtschaft an den israelischen Botschaften in Argentinien, Uruguay und Paraguay, Vorstandsmitglied und Vizedirektor von ‚Kupat Cholim’ (Gesundheitsdienste der Histadruth), Generaldirektor des ‚Mishan’ (größte soziale Organisation Israels). 1990 Direktor des American Joint in Ungarn, 1991 Direktor American Jewish Joint Distribution Committee für Bulgarien, 1995 auch Vertretung für die Slowakei. 1997 Associate Executive Vice President der Claims Conference in New York. Seit 1999 Leiter des Wien-Büros der Claims Conference. Dort kamen wir schließlich an: ein Kinderheim in Jerusalem. Eine der schlimmsten Sachen in meinem Leben, an die ich mich erinnern kann, war das Erwachen in der ersten Nacht, in einem großen Saal, wo ungefähr 25 Kinder geschlafen haben. Ich wachte mitten in der Nacht auf und hatte selbstverständlich das Gefühl, daß ich zu Hause bin. Mein Vater, meine Mutter irgendwo auch da. Ich öffne die Augen und sehe, wo ich wirklich bin. Dann drang es erst voll in mein Bewußtsein. Und ich sagte mir: „Also, du bist allein.“ Damit ich mich gleich von Anfang an keinen Illusionen hingeben sollte, gab es in der dritten Nacht einen Überfall einer arabischen Bande. Es wurde geschossen; man hat uns schnell in einen Korridor gebracht, damit wir nicht verletzt würden. Neben uns lag ein großes Camp des englischen Militärs. Ich erinnere mich bis heute: Sie kamen uns nicht zu Hilfe. Niemand kam uns zu Hilfe. — Also wieder einmal: von Österreich in die sogenannte Sicherheit Palästinas. Und die prompte Enttäuschung nach drei Tagen. Ich habe viel unternommen, um meine Familie zu retten. Unter anderem schrieb ich auch an den britischen High Commissioner von Palästina. Seine schön formulierte britisch-höfliche Antwort habe ich bis heute aufbewahrt: „I am sorry, but I can’t help you. Your obedient servant...“ 17