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nach 1917 nach Palästina gekommen sind, müssen zurück nach Europa. Article 20 spricht ganz klar davon, daß die Balfour Declaration als ungültig erklärt wird. „Judaism, being a religion, is not an independent nationality. Nor do Jews constitute a single nation with an identity of its own; they are citizens of the states to which they belong.“ Sofort nach dem Zweiten Weltkrieg sind Tausende Überlebende aus den Konzentrationslagern nach Israel gekommen, viele von ihnen mit bleibenden geistigen und körperlichen Narben. Von ihnen sind noch ein paar Hundert am Leben. Fast alle leben in Heimen. Sie können sich nicht allein verpflegen. Es gibt wahrscheinlich eine gewisse Absicht, die unliebsamen Holocaust-Erinnerungen aus der Welt zu schaffen. Und wenn man sie schon nicht ganz aus der Welt schaffen kann, so scheinen doch ständige Vergleiche und permanente Andeutungen, daß Israel die Palästinenser heute eigentlich ähnlich behandelt, wie die Nazis damals die Juden behandelt haben, hilfreich. Ich weiß nicht, ob das eine psychologische Notwendigkeit ist, mit der man zum Ausdruck bringen kann: „Wenn sich nun die Israelis wie die Nazis benehmen, also wie damals unsere Vorfahren, die Väter und Großväter, dann konnten die mit dem Holocaust nicht gar so unrecht haben.“ Die palästinensische Bevölkerung leidet, leidet sehr, darüber gibt es keinen Zweifel. Aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß nach dem Sechs-Tage-Krieg Versuche gemacht wurden, den ganzen Gaza-Streifen an die Ägypter zurückzugeben, ebenso die Westbank an Jordanien. Weder von Ägypten noch von Jordanien kam jedoch irgendeine Willensbezeugung, sich mit palästinensischen Problemen abzugeben zu wollen. Keines der Länder wollte diese Gebiete zurücknehmen. Als ich 1968 Botschaftsrat in Buenos Aires war, besuchte uns der betagte und pensionierte Ben Gurion. Ich stand neben ihm, als er einer jungen Journalistin des argentinischen Fernsehens sagte: „Wenn wir diese Gebiete nicht zurückgeben, wenn wir diese Gebiete nicht loswerden, wird das ein Unglück für Israel sein. Wir dürfen nur die Golan-Höhen behalten, da es keine Sicherheit für die jüdischen Kibbutzim gibt, die von den Golan-Höhen bombardiert wurden. Aber alle anderen Gebiete müssen wir zurückgeben. Wir sind keine Weltmacht, wir können uns das nicht leisten. Alles andere könnte eine Katastrophe für Israel werden.‘ Das hat Ben Gurion ganz klar gesehen - leider wurde es nicht realisiert. Wann immer ich nach Europa komme, bemerke ich, daß die europäischen Medien fiir den ,Nahost-Konflikt’ immer Israel verantwortlich machen. Was mich sehr betroffen macht, ist die Einseitigkeit der Berichterstattung. Stellen Sie sich vor, was in Osterreich passieren wiirde, wenn mit einem Nachbarland Streit ausbräche und mitten am Tag auf der Mariahilfer Straße ein Autobus explodierte: 50 Tote und 300 Verwundete. Wie würde man hier darauf reagieren? Wäre hier nicht der Gedanke gekommen: Wir Österreicher müssen solchen Terror vermeiden, wir müssen dort angreifen, wo der Terror vorbereitet wird. Diejenigen, die diese jungen Selbstmörder zu ihren Taten forcieren, bleiben am Leben; sie schicken nur die anderen vor. Sie überzeugen sie, daß das eine wichtige Mission im Namen der Religion sei. Wir wissen alle, daß die schlimmsten Kriege und Massenmorde immer dann zustande kamen, wenn die Vollstrecker der Befehle den Namen Gottes im Mund führten und sich auf den Willen Gottes beriefen. Auch der Antisemitismus hat christliche Wurzeln. Auch Hitler schreckte nicht davor zurück, sich auf den Allmächtigen zu berufen. Nach der Volksabstimmung über den Anschluß in Österreich und Deutschland hielt er nahe dem Westbahnhof eine Rede und rief: „Ich möchte dem danken, der mich zurückkehren ließ in meine Heimat, auf daß ich sie nun heimführe in mein Deutsches Reich. Möge am morgigen Tag jeder Deutsche die Stunde erkennen, sie ermessen, und sich in Demut verbeugen vor dem Willen des Allmächtigen, der in wenigen Wochen ein Wunder an uns vollzogen hat.“ Also auch Hitler hat den Allmächtigen im Mund geführt und ihn mißbraucht für seine Propaganda und seine Taten. Seit meiner Kindheit suche ich eine Antwort auf die Frage, wieso gerade in Österreich ein derartig verbitterter Antisemitismus geherrscht hat, der sich auch praktisch ausgedrückt hat? Daß es ausgerechnet hier so willige Vollstrecker gegeben hat? Es ist mir bewußt und ich habe es selbst erlebt, daß es auch im Österreich von heute nicht wenig noble Menschen gibt, Menschen mit gutem Herzen — gewissenhafte Historiker, Journalisten, Rechtsanwälte, Politiker und andere; dennoch gab es hier eine andere Art des Umgangs mit dem Holocaust als die, die ich in Deutschland wahrnehmen konnte. Es gab zum Beispiel nicht diese breite öffentliche Kritik — von staatlicher und kirchlicher Seite — an den „Heldentaten“ der Nazis. Zu den Formen nicht verarbeiteter Geschichte gehört aber auch der neue Antisemitismus, der aufgrund der tendenziösen Darstellungen des Nahostkonfliktes in breiten Kreisen wieder salonfähig geworden ist. Dennoch gab es mit dem Zustandekommen der Restitutionsverhandlungen einen wichtigen Durchbruch in Österreich. Und das ist ein Grund, warum ich diese Mission in Österreich angenommen habe - letztendlich auch, warum ich heute hier weiter tätig sein kann. Ich freue mich besonders, daß der heute anwesende Präsident der Historikerkommission, Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner, mit seinem Team von großartig recherchierenden Historikern dafür gesorgt hat, daß die Taten von damals offen auf den Tisch gelegt wurden. (Der endgültige Bericht liegt noch nicht vor.) Was wir aus den Forschungen bisher wissen ist, daß alle Juden, die 1938 in Österreich gelebt haben, eine Vermögenserklärung abgeben mußten. Das beinhaltete Bankkonten, Eigentum, Wohnungen, Geschäfte. Und es betraf jeden, der über 5.000 Deutsche Mark besaß. Diese Erklärung ergab eine Summe von 2,041,828.000 Reichsmark. Auf heutige Verhältnisse umgerechnet sind das zwei Milliarden US-Dollar. Es stimmt: Die Vermögenssteuer und die Fluchtsteuer wurden nach Berlin an die Deutsche Nationalbank transferiert. Aber die Wohnungen sind hier geblieben, die Geschäfte sind hier geblieben, was geplündert wurde, ist hier geblieben. Bei einer Veranstaltung im Literaturhaus im Jänner 2002 wurde ich vom Vertreter der österreichischen Industrie gefragt: „Sagen Sie, Herr Jahoda, warum glauben Sie, daß unsere Mitglieder, die alle jünger sind und die zur Zeit des Holocausts noch nicht gelebt haben, schuld sind? Weshalb sollten diese jungen Industriellen für etwas bezahlen, das vor ihrer Zeit passiert ist?“ Meine Antwort war ganz einfach: „Ich würde es diesen Leuten gerne persönlich sagen: Weil sie in ein reicheres Österreich hineingeboren wurden. Ein Österreich, das reicher wurde aufgrund des ungeheuerlichen Raubes von Eigentum ihrer jüdischen österreichischen Mitbürger.“ Raubmord ist eine Schuld, die nicht so einfach verjährt. Eine Frage ist für mich noch offen: Österreich hat 1963 mit Deutschland in Bad Kreuznach Verhandlungen geführt, um alle gegenseitigen Schulden und Forderungen zu tilgen und zu beseitigen. Mir ist jedoch vollkommen unklar, weshalb sich die 19