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Ich bestelle mir einen zweiten Cappuccino und zünde mir eine Zigarette an. Als der Kellner den Kaffee auf meinen Tisch stellt, habe ich die dritte schon fertig geraucht. Soll doch Vater denken, was er will. Vielleicht ist mein Schicksal längst eingetragen in das große Buch. Es steht geschrieben, dass ich an Lungenkrebs sterben werde. Ich stelle mir Vaters bitteres Lächeln über eine solche Bemerkung vor. Gerade in seinem Leben hat das „große Buch“ eine entscheidende Rolle gespielt. Er hat oft darüber gesprochen. Wie die meisten Atheisten war er abergläubisch. Ich lasse mir ein Apfeltörtchen mit Sahne bringen. Die Zigarettenasche fällt auf die Sahne, hinterlässt schwarze und graue Punkte. Ich denke an ein Ereignis vor mehr als fünfzig Jahren, das Vater mit dem „großen Buch“ in Verbindung brachte. Das erste Mal erzählte er mir davon, als ich zehn war und danach immer wieder, jedes Mal mit neuen Details. Offenbar konnte er die Bilder von damals nur bannen, indem er sie von einem Mal auf das andere zum Leben erweckte. Als ich 1984 das erste Mal nach Israel fuhr, suchte ich den Ort auf, den Vater so oft beschrieben hatte, und fand alles — die Orangenplantagen, die Kakteen, den kleinen Hügel und den Bach. Nur aus dem Kibbutz mit seinen Holzbaracken war inzwischen eine größere Siedlung geworden. Ich machte Photos, die ich Vater nach meiner Rückkehr zeigte. „Hier war es!“ rief er aus. „Genau hier!“ Er zeigte auf eine Stelle, an der ich überhaupt nichts entdecken konnte, nur Erde und Stein... Im März 1948 wehte in Jerusalem noch der Union Jack. Die britische Marine machte im Mittelmeer Jagd auf Schiffe, die illegale Einwanderer nach Palästina brachten. Doch über das Land hatte die Kolonialmacht die Kontrolle schon verloren. Das jüdische Viertel in Jerusalem wurde belagert. Palästinensische Freischärler überfielen Konvois der Haganah, die mit Nachschub zu den Belagerten unterwegs waren, sie verübten Überfälle und Anschläge. Auf Terror folgte Gegenterror. Der Krieg hatte längst begonnen. Die Flucht und Vertreibung der arabischen Bevölkerung sollte später folgen. Vater hatte ein Gewehr, zwei Handgranaten und ein Messer. Zusammen mit anderen jungen Männern verteidigte er seinen Kibbutz. Er habe, versicherte er mir später, in jenen Wochen nicht viel nachgedacht. Mit achtzehn Jahren denke man entweder zu viel oder zu wenig nach, und wenn man zu viel nachdenke, dann meistens über die falschen Dinge. Mein Vater dachte über das ekelhafte Melken von Kühen nach. Er hasste den Stallgeruch, die Fliegen und den Kot. Er konnte Tiere nicht leiden. Am liebsten wäre er in der Kibbutztischlerei geblieben, wo er bis vor einem halben Jahr an den Nachmittagen nach dem Schulunterricht gearbeitet hatte. Berl, Leiter der Tischlerei, war Gründungsmitglied des Kibbutz, stammte aus Rumänien und war schon in den Zwanzigerjahren nach Palästina gekommen. Er war ein rechtschaffener Mann, doch meinen Vater wollte er in seinem Betrieb nicht haben. Der Junge habe zwar eine Begabung für das Handwerk, erklärte der Tischler, aber er sei schnippisch, aufsässig, unberechenbar. Berl war es zu verdanken, dass Vater zu den Kühen versetzt wurde. Da nützten die Proteste meiner Großmutter nichts. Der Tischler hatte das Kollektiv auf seiner Seite. Vater fühlte sich ungerecht behandelt und beklagte sein „viehisches Schicksal“. Seinen Freunden erklärte er, der alte Rumäne beneide ihn um seine höhere Kultur, die er als deutscher Zuwanderer „zweifelsohne“ besitze. Erst als Vater das Gewehr ausgehändigt wurde, die Älteren, allen voran der Tischler, ihm die Hand drückten, in die Augen schauten und Sätze voller Pathos auf dem Weg mitgaben, war er geneigt, die erlittene Kränkung zu vergessen. Wie die meisten Burschen und Mädchen über siebzehn wurde Vater Mitglied der Haganah, der jüdischen Untergrundarmee, die nach der Unabhängigkeit wenige Monate später in die israelischen Streitkräfte umgewandelt wurde. Vater war stolz auf seine Aufgabe. Er erinnerte sich, wie er als jüdisches Kind in Deutschland beschimpft und misshandelt worden war, an die Ermordung seines Vaters und an die Demütigungen, die seine Mutter erlitt. Doch auch hier im Kibbutz, in dem hauptsächlich Zuwanderer aus Osteuropa lebten, war er ein Außenseiter. Nun, da er ein Gewehr tragen und mit den anderen marschieren durfte, fühlte er sich der Gemeinschaft zugehörig. Auf einmal war er stolz darauf, Jude zu sein, und bedauerte seinen Cousin Robert, der mit seinen Eltern ein Jahr zuvor nach Deutschland zurückgekehrt war. Roberts Mutter hatte Verwandte in Dortmund, Überlebende der Schoa, die sich in dieser fast völlig zerstörten Stadt eine neue Existenz aufbauen wollten. Nur Juden können so viel Masochismus entwickeln, dachte mein Vater. Im Januar war der Kibbutz das erste Mal Ziel eines Angriffs gewesen. In einer regnerischen Nacht waren Schüsse gefallen. Die Patrouillen schlugen Alarm. Alle stürmten ins Freie. Nur eine Frau blieb in ihrem Bett liegen. Eine Kugel hatte die Wand der Wohnbaracke durchschlagen und sie im Schlaf getötet. Bei dem folgenden Feuergefecht starb ein weiterer Bewohner der Siedlung und ein arabischer Angreifer. Er stammte aus einem drei Kilometer entfernten Dorf, dessen Minarett man vom Aussichtsturm des Kibbutz sehen konnte. Im Mai würde die Haganah das Dorf stürmen und zerstören. Doch bis dahin sollten noch viele Menschen sterben. Seitdem hatte es keine Nacht gegeben, in der es nicht zu einem Zwischenfall gekommen wäre. Als Anfang Februar der Regen schräg an die Mauern peitschte und die sandigen Wege zwischen den Häusern nur mit Gummistiefeln zu passieren waren, meinte Vater im Schein der Blitze Feinde zu erkennen und schoss auf jeden Schatten, der sich bewegte. Meist war der Feind ein Hase oder ein Orangenbaum, der im Wind schaukelte. Vater schoss und seine Begleiter, kaum älter als er selbst, schossen ebenfalls, und immer öfter wurde tatsächlich zurückgeschossen. Manchmal war das Durcheinander so groß, dass die Verteidiger einander aus den Augen verloren. Niemand hatte gesehen, wie Izchak getötet wurde. Izchak Gold, der illegale Einwanderer, der Flüchtling aus Polen, davor Stadtstreicher in den Ruinen von Warschau, noch früher Häftling in Groß-Rosen und Auschwitz, lag mit dem Gesicht in einer Lache aus eigenem Blut. 21