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Die Tage im März können schön sein, erzählte mir Vater. Die Temperatur steige bis zu zwanzig Grad an. Auf den Hängen blühen rote Anemonen und Mohnblumen und in den Gärten die Obstbäume. Der süßliche Duft der Orangenblüten wirke auf das Gemüt wie schwerer Wein, und aus dem Süden bringe ein warmer Wind den Hauch des Sommers. Ein solcher Tag kündigte sich an, als Vater im Morgengrauen auf Patrouille ging. Sie waren zu viert. Der Älteste, Yaron Javetz, war der Führer der Gruppe. Der Fünfundzwanzigjährige war schon in Palästina geboren. Vater beschrieb ihn als „groß gewachsen, gutaussehend, wortkarg, etwas verwegen manchmal, aber nie tollkühn oder verantwortungslos.“ Er sei, erzählte Vater, für die Jüngeren ein Vorbild gewesen, „denn, um einen dummen, in manchen Fällen aber dennoch zutreffenden amerikanischen Ausdruck zu verwenden: er war ein born leader.“ Im Kibbutz waren alle der Meinung, dass Yaron nach der Unabhängigkeit Kaderoffizier werden solle. Er selbst jedoch gab seine Vorstellungen über die Zukunft nicht preis. Wenn ihn jemand darauf ansprach, sagte er mit leiser Stimme: „Die Menschen planen für Jahrzehnte und haben nicht einmal die Herrschaft über den heutigen Tag.“ In Yarons Zimmer befanden sich außer seinem Bett, einem Tisch, einem Stuhl, einer Truhe und ein paar Büchern ein Grammophon und eine Bratsche. Wenn er darauf spielte, konnte jeder hören, dass ihm keine große Karriere als Musiker bevorstand. Seine Aufgaben im Kibbutz erfiillte Yaron lustlos, aber gewissenhaft. „Melde dich nie zu einer Arbeit freiwillig, lehne aber nie eine dir übertragene Aufgabe ab“, erklärte er. Zwi Chaimowitsch war zwei Jahre jünger als Yaron und dessen bester Freund. Niemand verstand, was die beiden miteinander verband. Yaron galt als intelligent, während Zwis Dummheit fast sprichwörtlich war. In der Schule war der dickliche Knabe durch oberflächliche Scherze und störende Zwischenrufe aufgefallen. Dies und sein völliges Unvermögen, dem Unterricht zu folgen, führten zum frühzeitigen Ende seiner Ausbildung. Man wies ihm eine Arbeit in der Orangenplantage zu, die ihn völlig zufrieden stellte. Nach einiger Zeit bezeichnete er sich selbst als „Orangenbruder“. So nannten ihn bald auch die anderen. Schlomo Kirschenzweig war kaum älter als mein Vater. 1944 war er aus Westungarn nach Auschwitz deportiert worden, hatte als Einziger seiner Familie überlebt und sich nach dem Krieg nach Palästina durchgeschlagen. Die Verantwortlichen im Kibbutz gingen behutsam mit ihm um. Schließlich habe er Entsetzliches durchmachen müssen. Manchmal erzählte er über das Leben und den Tod im Konzentrationslager, jedoch nie über seine persönlichen Erlebnisse. In nur einem Jahr hatte er Hebräisch gelernt. Er erfüllte alles, was man ihm auftrug, war stets freundlich und lächelte seinen Mitmenschen entgegen, als erfülle ihn deren bloße Existenz mit unermesslichem Glück. „Während der Patrouillen behielt mich Yaron immer im Auge“, erzählte mir Vater, „wenn du Dummheiten machst, schieß ich dir die Nase ab, hatte er mir gedroht. Im Kibbutz galt ich als Querulant und Chaot. Ich habe oft mit den Leuten gestritten und Anweisungen in Frage gestellt.“ An jenem Morgen Anfang März 1948 machten sich diese vier jungen Männer auf den Weg zu ihrem Kontrollgang. Die Stimmung war schlecht. Eigentlich lief von der ersten Minute an alles schief. Sie hatten den Kibbutz schon verlassen, als Zwi 22 bemerkte, dass er sein Gewehr vergessen hatte. Seltsamerweise war das bis dahin niemandem aufgefallen. „Verdammte Scheiße‘, schimpfte Yaron mit gedämpfter Stimme. „Wenn wir alle solche Krieger wären wie du, würden wir längst am Strand des Mittelmeers auf Schiffe warten, die uns irgendwohin bringen, wo Juden keine Feinde haben. In die Antarktis. Mit den Antisemiten unter den Pinguinen werden vielleicht sogar solche wie du fertig... Na gut, lauf schnell zurück.“ Vater erinnerte sich, wie Zwi zu den Gebäuden des Kibbutz zurückwatschelte. Dieser groteske Erpel, dicklich, ängstlich, desorganisiert, war ihm peinlich. „Ich gehe voraus“, meinte Schlomo. „Sonst bleibt, während wir warten, unser Abschnitt ungeschützt.“ „Kommt nicht in Frage“, entgegnete Yaron. „Niemand darf sich von der Gruppe entfernen.“ „Ich werde oben auf dem Hügel warten“, erklärte Schlomo. „Von dort überblicke ich das Gelände, und ihr habt mich ebenfalls im Auge.“ Er lächelte und klopfte Yaron auf die Schulter. „Vertraue mir. Ich bin wie eine Katze. Ich habe sieben Leben, von denen sind erst fünf verbraucht.“ „Es ist noch zu dunkel“, meinte Vater. „Wir werden dich nicht sehen können.“ „Du bleibst hier!“ befahl Yaron. „Ich bin den Nazis entkommen, da können mich ein paar Fellachen nicht schrecken“, sagte Schlomo. Er lächelte immer noch, doch seine Augen strahlten einen harten Glanz aus. „Vertrau mir einfach!“ Er schulterte sein Gewehr und machte sich auf den Weg. Der Patrouillenführer lief Schlomo nach, fasste ihn am Ärmel, zerrte ihn zurück. „Du bleibst!“ keuchte er. „Du bleibst! Ich befehle es!“ Dann holte er aus und hätte Schlomo ins Gesicht geschlagen, wenn ihn dieser nicht mit einer schnellen Bewegung am Handgelenk gefasst hätte. „Keiner schlägt mich mehr“, erklärte er ruhig. „Weder du noch sonst jemand.“ „Hört doch auf mit dem Blödsinn“, sagte Vater. „Wir müssen verrückt sein“, sagte Yaron schließlich mit gedämpfter Stimme und ließ den Ärmel seines Kontrahenten los. „Wir sind hier wie auf einer Bühne. Frei zum Abschießen.“ „Stimmt. Und du atmest wie nach einem Boxkampf“, meinte Schlomo. Er hob beide Handflächen zu einer abwehrenden und gleichzeitig versöhnlichen Geste. „Alles in Ordnung. Du bist der Chef. Wenn du es für richtig hältst, bleibe ich hier.“ Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch am Horizont des dunkelblauen Himmels konnte man einen gelblichen Schimmer erkennen. Man sah kleine Zypressen, die Kakteen zwischen den Steinen, Büsche, die flachen Dächer der Siedlung sowie das Wasserreservoir auf Betonpfeilern. Nur der Hügelrücken hob sich undeutlich von der Dunkelheit ab. Endlich kam Zwi zurück. Die Haarsträhnen klebten auf seiner schweißnassen Stirn. Auch mit dem Gewehr in der Hand sah er nicht wie ein Soldat aus. „Was rennst du so, Orange?“ fragte Yaron. „Du wirst dich noch erkälten.“ „Ich weiß“, stammelte Zwi und schnappte nach Luft. „Wozu rennst du dann? Jetzt musst du erst einmal verschnaufen. Wir haben durch dein Laufen keine Zeit gewonnen.“ „Ja, ja“, sagte Zwi. „Du hast Recht. Aber jetzt muss ich dringend pinkeln.“ „Mach schnell!“ Verärgert ging Yaron ein paar Schritte auf und ab, spuckte aus, bewegte mit der Spitze seines Stiefels einen Stein, blieb schließlich stehen und verschränkte die Arme.