OCR
„Gut, dass unsere Feinde noch armseliger sind als wir“, brummte er. Während Zwi seine Blase entleerte, beobachtete Vater den Hügelrücken. Später erklärte er seinen Fehler damit, dass die Steine im Mondlicht an bleiche Gesichter erinnerten und die Kakteen an eine Armee verwachsener Gnome. Es schien, als würden diese grotesken Gestalten langsam den Hügel hinabsteigen. Aber Vater war in den vergangenen Wochen schon so oft ein Opfer seiner Irrtümer gewesen, dass er die tanzenden Schatten für Einbildung hielt. Yaron hatte ihn ermahnt, er solle erst Alarm schlagen, wenn er „die feuchtglänzenden Augen der Araber“ deutlich erkennen könne. „Ich bin so weit‘ verkündete Zwi mit fröhlicher Stimme. „Nicht so laut!“ zischte Yaron. „Man hört dich ja bis nach Mekka.“ In diesem Augenblick fiel der erste Schuss. Gefechte, erklärte mir Vater, sehe man später manchmal wie einen Film in Zeitlupe, der im Gedächtnis abläuft. Eine andere Variante der Erinnerung sei der Videoclip. Die Bilder kommen scheinbar beliebig, schnell und in kurzen Sequenzen. Stilisierte Gestalten in einer irreal anmutenden Umgebung. Vaters Erinnerung an das Gefecht war eine Mischung aus beiden Varianten. Den Übergang von der ersten zur zweiten bildete die Explosion einer Handgranate, die Schlomo gegen die Angreifer geworfen hatte. Sie war zu früh, noch in der Luft, explodiert. Vater wusste nicht mehr, wie viele Angreifer es gewesen waren, sieben, acht, vielleicht zehn. Der Schock über den „plötzlichen Lärm der Schüsse mitten in eine absolute Stille hinein, die pfeifenden Kugeln und die buchstäblich aus dem Nichts aufgetauchten Feinde keine fünfzig Meter entfernt“ habe seine Sinne getrübt, so dass er womöglich eine kleine Brigade mit sechs Mann für eine ganze Division gehalten habe. Einen seiner Feinde konnte er jedoch gut beschreiben: ein groß gewachsener Mittdreißiger mit „kultiviertem Gesicht und einem intelligenten Ausdruck“, Brille und Oberlippenbart. Er lief den anderen voraus, gestikulierte und schrie. Offenbar führte er die Gruppe an. Er trug ein Palästinensertuch, Patronengürtel um beide Schultern, Gamaschen und Halbschuhe. Auffallend waren die rote Rose im obersten Knopfloch seiner Jacke und seine weißen Handschuhe. Wie ein Dorfbewohner habe er jedenfalls nicht ausgesehen, meinte Vater und stellte Mutmaßungen über die Herkunft des Mannes an. Ob er wohl einer der angesehenen Jerusalemer Familien entstammte oder aus Syrien, Ägypten oder dem Libanon gekommen sei, um seinen palästinensischen Brüdern im Kampf gegen die Juden beizustehen? Das sollte Vater nie erfahren. „Ich habe“, berichtete er, „weder überlegt noch gezielt. Ich schoss und er fiel, so als wäre er gestolpert. Wenn man Todesangst hat, ist es leicht zu töten. Erst als alles vorbei war, verstand ich, dass er tot war, während ich weiterleben, aber nie mehr derselbe sein würde.“ An dieser Stelle pflegte Vater zu sagen, dass dies eigentlich der ideale Schlusspunkt der Geschichte sein müsste. Hätte Zwi nach dem Aufwachen nicht soviel Kaffee getrunken, hätte er nicht pinkeln müssen. Sie wären rechtzeitig oben auf dem Hügel gewesen und hätten ihre Gegner vielleicht allein durch ihre Präsenz an dieser strategisch wichtigen Stelle von einem Angriff abgehalten. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn Yaron und Schlomo sich nicht gestritten hätten oder wenn Vater die Schatten der Feinde nicht mit den Schatten von Gewächsen verwechselt und seine Kameraden rechtzeitig gewarnt hätte. „Jeder menschlichen Tragödie“, erklärte Vater, „wohnt eine Zwangsläufigkeit inne. Unsere Fehler zwingen uns in Situationen hinein, in denen sich bestimmte Zufälle verketten müssen, und wenn wir ihnen das eine oder andere Mal entgehen können, geschehen sie zu einem späteren Zeitpunkt trotzdem. Insofern dürfen wir den Zufall nie mit Beliebigkeit verwechseln. Nichts im Leben ist beliebig.“ Das Gefecht hatte höchstens eine Minute gedauert. Noch bevor die Patrouille Unterstützung aus dem Kibbutz erhalten konnte, war alles vorbei. Vater und Schlomo hatten sich auf den Boden fallen lassen und Yaron hatte hinter einem Stein Deckung bezogen. Nur Zwi war stehen geblieben. Es war ein Wunder, dass er unverletzt geblieben war, und es war mehr als ein Wunder, dass der Angriff abgewehrt werden konnte. Yaron war ein guter Schütze. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er als Soldat der Jüdischen Brigade in Italien gegen die Deutschen gekämpft. Die Angreifer waren hingegen keine geübten Kämpfer. Sie gehörten lose organisierten paramilitärischen Verbänden an. Dieser Umstand, eine gute Portion Glück, der abschreckende Effekt der gezündeten Handgranate und die Tatsache, dass mein Vater den arabischen Anführer erschossen hatte, schlug die Freischärler in die Flucht. Außer dem Toten blieben zwei Verletzte zurück. Die Verletzten lagen auf halbem Weg zwischen der Stelle, an der sich Vater und seine Kameraden verteidigt hatten, und dem Hügelrücken. Einer von ihnen war sehr jung, sechzehn, vielleicht siebzehn. Er lag auf der Seite, die Hände gegen den Bauch gepresst, die Knie angezogen und schrie vor Schmerzen. Den anderen erkannte Vater an seiner schiefen Nase, der ledrigen Haut und dem großen Mund, der seinem Gesicht ein froschähnliches Aussehen verlieh. Es war der Friseur aus dem arabischen Dorf. Als Araber und Juden noch nicht aufeinander schossen und Vater das Dorf besuchen konnte, hatte er den Mann durch die Scheibe seines Geschäfts bei der Arbeit beobachtet. Manchmal hatte er auf der Straße vor dem Eingang zu seinem Haus gesessen und mit anderen Männern Tee getrunken. Die Tassen hatten auf einem runden Tischchen gestanden, dessen bunte Glasplatte mit stilisierten Schriftzeichen verziert war. Jetzt kauerte der Friseur auf der steinigen Erde zwischen Sträuchern und Kakteen. Sein Gewehr lag einige Meter entfernt. Er streckte beide Arme in die Höhe und spreizte die Finger. Er sagte etwas. Kehlige, abgehackte Sätze. Er wiederholte sie einige Male, bevor er verstummte. Als Vater näher gekommen war, erkannte er, dass die Hose des Verwundeten zerfetzt war und sich rot gefärbt hatte und dass Fliegen um die Wunde kreisten. Es roch nach Urin und rohem Fleisch. Es herrschte wieder Stille, die nur vom Stöhnen der Vergenden zu. Er hatte sein Gewehr auf sie gerichtet, den Finger am Abzug. Einige Male blieb er stehen und schaute sich um. „Wir hatten große Angst“, erzählte Vater. „Trau keinem, der am Boden liegt und dich um Hilfe anfleht. Du kannst nie sicher sein, ob es nicht ein Trick ist. Das gilt nicht nur in Zeiten des Krieges.“ Schlomo, Zwi und Vater folgten Yaron in einem Abstand von einigen Metern. Sie machten einen Bogen um den Toten, der mit dem Gesicht nach unten lag, die Arme ausgebreitet, als wäre er vom Himmel gefallen. Der junge Mann winselte und wälzte sich hin und her. Der Friseur streckte weiterhin die Arme in die Höhe. Er begann wieder zu sprechen, wurde immer schneller und lauter, schnappte nach Luft, hustete. Yaron drehte den Jüngeren mit dem Fuß auf die andere Seite. Dieser rollte die Augen und stöhnte. „Water!“ bettelte er. „Water! Please!“ 23