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„Keine Waffen“, sagte Yaron und wandte sich dem Friseur zu, zog ihm das Tuch vom Kopf, beugte sich zu ihm herunter und durchsuchte seine Jacke. Der Friseur warf ihm einen bangen Blick zu und hörte nicht auf, etwas auf Arabisch zu erklären. Der Schuss fiel, als Yaron sich wieder aufrichtete und erleichtert sagte: „Die einzige Waffe, die der hat, ist sein Mundwerk.“ Vater sah, wie Yaron sich blitzschnell auf die Erde warf, während der Friseur mit einem ängstlichen Schrei die Arme sinken ließ. „Um Himmels Willen!“ hörte Vater Zwis Stimme. „Was in Teufels Namen...“ Vater drehte sich um. Schlomo stand neben dem verletzten jungen Mann. Der Lauf seines Gewehrs war nach unten gerichtet. Blutige Gehirnmasse klebte an seinen Schuhen. Vater erzählte mir, dass er sich in diesem Augenblick ganz langsam auf einen Stein setzte und das Gewehr auf die Erde legte. Er konnte seinen Blick nicht vom zerfetzten Kopf des Arabers losreißen. Währenddessen erhob sich Yaron wieder und lief zum Erschossenen. „Warum hast du das getan?“ schrie er. „Entweder sie oder wir“, sagte Schlomo ruhig. „Aber...“ „Ich habe mit dem Tod noch eine Rechnung offen.“ Schlomo wirkte sehr gefasst. Er lächelte sogar. Er wandte sich vom Toten ab, richtete sein Gewehr auf den Kopf des Friseurs und ging auf ihn zu. Der Araber hob die Arme zu einer abwehrenden Geste und erstarrte. Mit panischem Blick schaute er Schlomo an. ,,No, no, no, do not, please!“ winselte er. Die englischen Worte sprach er falsch und undeutlich aus. „Please no! Please! No!“ In all den folgenden Jahren mutmaßte Vater, weshalb Yaron damals geschwiegen hatte. Befürwortete er die Ermordung des Friseurs, weil damit ein unliebsamer Zeuge für den ersten Mord beseitigt wurde? Hatte er von jemandem die „Empfehlung“ erhalten, keine Gefangenen zu machen? Jedenfalls beobachtete der Leiter der Patrouille die nachfolgende Szene ruhig und scheinbar unbeteiligt. „Wir waren unter Schock“, erzählte Vater. „Und alles geschah so schnell. Das Gefecht dauerte keine Minute, die nachfolgenden Morde samt Auseinandersetzung nicht wesentlich länger, eineinhalb, höchstens zwei Minuten, genau die Zeit, bis eine bewaffnete Gruppe von Kibbutzniks bei uns auftachte.“ Zwi stellte sich Schlomo in den Weg und ergriff den Lauf seines Gewehrs. „Bist du verrückt?“ schrie er. „Er ist verletzt und unbewaffnet. Tu’s nicht! Sonst wirst du’s dein Leben lang bereuen.“ „Heute ist er verletzt, morgen ist er wieder gesund“, sagte Schlomo und stieß Zwi beiseite. „Wenn ich ihn heute nicht töte, tötet er morgen dich. Denk daran, was Izchak passiert ist.“ „Sei ein Mensch!“ schrie Zwi und umklammerte Schlomos Taille. „Sei ein Mensch!“ „Das Menschsein wurde mir ausgetrieben“, sagte Schlomo leise und stieß Zwi mit solcher Kraft von sich, dass dieser hinfiel. Der Lauf von Schlomos Gewehr berührte die Stirn des Friseurs, der zu winseln aufgehört hatte und nur noch stumm seine Lippen bewegte. Sein Oberkörper zitterte heftig. „Haltet ihn zurück!“ hörte Vater Zwis Stimme. „Um Gottes Willen!“ Aber weder Yaron noch Vater unternahmen etwas. „Ich saß auf diesem Stein und hatte jegliche Kontrolle über mich verloren“, erklärte Vater. „Wie oft hatte ich es später bereut, nicht wenigstens einen Satz, nein, nur ein Wort heraus24 gebracht zu haben, ein einziges Nein! Mein Leben wäre anders verlaufen, wenn ich nur ein simples Nein geflüstert hätte. Aber ich war achtzehn Jahre alt, hatte kurz zuvor einen Menschen erschossen und mit angesehen, wie ein anderer ermordet wurde. Ich war wie gelahmt.“ Jedes Mal, wenn Vater diese Geschichte erzählte, beteuerte er, dass ihn die Ermordung des Friseurs (die zerborstene Stirn, das spritzende Blut, der weggerissene Hinterkopf) weniger erschütterte als der Ausdruck in Schlomos Gesicht. Wenn er zornig oder verbittert gewirkt hätte, brutal oder sadistisch, wäre es Vater später leichter gefallen, die Bilder aus seinem Gedächtnis zu bannen. Nachdem er den Friseur erschossen hatte, drehte sich Schlomo um und schaute meinen Vater an. „Glotz nicht so“, sagte er. „Wir müssen so werden wie alle Völker. Sonst bleiben wir für immer das außerwählte Volk, das Opfervolk, und sie werden das von den Nazis begonnene Vernichtungswerk vollenden.“ Es fiel mir schwer zu glauben, dass Schlomo damals diesen Satz wirklich gesagt hat. Auch heute fällt mir die Vorstellung schwer, ein Mörder kommentiere seine Untat unmittelbar danach mit einem ideologischen Postulat. Vater entgegnete mir, Ideologie sei nun einmal Teil des Kibbutzlebens gewesen. Man pflanzte nicht einfach ein Kornfeld, sondern erschloss Neuland für das jüdische Volk, das nach zweitausend Jahren der Verfolgung wieder „ins Gelobte Land aufstieg“. Man erzog nicht die Jugend, sondern schuf einen „neuen Menschen“. Inspiriert vom Gedanken der kollektiven Befreiung und Wiedergeburt ihrer Kultur, war die Sprache der Juden in Palästina deklamatorisch, unpersönlich und von Schlagworten durchsetzt. In der Schule lernte man, seine Gedanken in getragene Sätze eines biblischen Hebräisch zu fassen. Schlomos Ausspruch hatte Vater nicht überrascht. Aber es schien ihm — und das entsetzte ihn viel mehr —, Schlomo glaube kein Wort von dem, was er eben gesagt hatte, denn seine Augen waren völlig ausdruckslos. Aufrecht und starr stand er neben dem toten Friseur. Konnte dieser Mensch überhaupt noch an etwas glauben? Während Zwi weinte, lächelte Schlomo wieder, nickte einige Male und wiederholte: „Du hast Recht.“ Zwi lag immer noch auf der Erde. Sein dicker Körper schien in sich zusammengefallen zu sein. Das Gesicht mit dem Babyspeck um die Wangen und der Stupsnase war gerötet. Yaron machte einige Schritte auf Schlomo zu, blieb aber neben Vater stehen, griff in die Außentasche seiner khakifarbenen Jacke, holte eine Zigarettenschachtel heraus und hielt sie Vater entgegen. „Rauch!“ sagte er. „Dann geht es dir besser. Sonst fällst du noch in Ohnmacht.“ Es klang wie ein Befehl, und Vater gehorchte. Er habe damals, versicherte er mir, die erste und letzte Zigarette seines Lebens geraucht. Vom Tabak wurde ihm schwindlig und ein wenig übel, aber auf einmal kam es ihm vor, als habe sich eine Wand zwischen ihn und die Außenwelt geschoben. Er sah, wie ein Dutzend Männer und Frauen aus dem Kibbutz am Ort des Geschehens auftauchten, wie sie aufgeregt hin und her liefen und durcheinander redeten. Aber das interessierte ihn nicht. Es interessierte ihn überhaupt nichts in diesem Augenblick. „Nach dem Krieg hätte ich am Technion in Haifa Maschinenbau studiert“, erklärte Vater, „danach Karriere gemacht, viel Geld verdient und mir auf dem Karmel ein Häuschen mit Garten und Blick aufs Meer gebaut. Vielleicht hätte ich mich politisch engagiert oder für eine Zeitung gearbeitet. Ich hatte einen guten Stil im Hebräischen. Mein Lehrer war der Mei