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heiten sein eigentliches Werk präsentieren, indem er den Zensoren mit einer Vorbemerkung einfach das Wasser abgräbt: „Der Titel dieses Buches ist eine Anspielung auf den Ausspruch Engels’, die eigentliche Geschichte der Menschheit beginne erst mit dem Sozialismus“. Die übliche Auflage von 500 wurde sogar auf 1.120 Exemplare erhöht. Auch dem Sachwalter Alfred Kittner gelang es mit viel Geschick, die politischen Texte in den ersten Auswahlbänden Margul-Sperbers gänzlich auszuklammern: Ausgewählte Gedichte (Bukarest 1968, 205 S.) und Das verzauberte Wort. Der poetische Nachlaß 1914 — 1965 (Bukarest 1969, 392 S.). Nachdem allerdings der letzte von Kittner zusammengestellte, Band Geheimnis und Verzicht. Das lyrische Werk in Auswahl (Bukarest 1975) stattliche 640 Seiten umfaßte, mußten offensichtlich einige sozialistische Gedichte aufgenommen werden, zumal zwischenzeitlich in Berlin (DDR) eine Auswahl mit deutlichem Fingerzeig erschienen war (Verzaubertes Wort, 2. Auflage 1977). Als letzten Beleg für den wirklichen Standpunkt des Dichters Alfred Margul-Sperber möchte ich eine Äußerung von Klara Blum, einer unbeirrbar ihrer Überzeugung lebenden Kommunistin aus Czernowitz, die seit den dreißiger Jahren in Rußland und später in China lebte, in einem Brief vom 22.7. 1969 an „Genosse Weininger“ über den Band mit Übertragungen Weltliteratur von Alfred Margul-Sperber zitieren: „Sperbers dichterische und nachdichterische Sprache ist außerordentlich schön. Aber er wählt die Originale nach dem Leitmotiv: ‘Um Gottes Willen, reden wir nicht von Politik, wozu brauchen wir die Politik?“ (Zit. nach: Klara Blum. Kommentierte Auswahledition. Hg. von Zhidong Yang. Wien u.a. 2001, S. 558). Bernhard Albers, geb. 1951; 1968-70 Verlagslehre; Studium Philosophie und Theologie 1972-77. 1977-79 Referendar; 1982-86 Assistent. 1987 Promotion. 1981 Gründung des Rimbaud Verlags in Aachen; verantwortlich für das Verlagsprogramm. Wissenschaftlicher Redakteur. Der A. Margul-SperberBand ,, Sinnloser Sang. Friihe Gedichte“ (96 S., Euro 21,-) erschien im Sommer 2002 im Rimbaud Verlag. Ein Schwerpunkt der Verlagstätigkeit des Rimbaud Verlages liegt auf Texten aus der Bukowina: Paul Celan, Alfred Gong, Alfred Kittner, Immanuel Weißglas ... Eines der schönsten Bücher aus jüngster Zeit sind die Kindheitserinnerungen von Moses Rosenkranz, der uns bislang vor allem als Lyriker bekannt war. Rosenkranz wurde 1904 in einem Dorf am Pruth geboren, als Sohn eines jüdischen Schankwirtes und Kleinbauern, der neben der eigenen Wirtschaft noch ein Gut eines adeligen Großgrundbesitzers hinzupachten mußte, um die kinderreiche Familie durchzubringen. Er beschreibt die „Welt der bäuerlichen Armut, wo die Arbeitspflichten früh begannen“, ohne Sentimentalität und falsche Nostalgie, aber auch ohne Klage, in einer dichten, bilderreichen Sprache. In der jüdischen Literatur dieser Regionen lernen wir die dörfliche Welt meist aus der Sicht des Schtetls kennen, dessen Bewohner als Vermittler zwischen Bauern und Märkten agieren. Rosenkranz schildert das Leben jüdischer Kleinbauern, und das ist neu und spannend, aus direkter Nähe, aus der Perspektive des Kindes, vertraut mit Tieren und ländlicher Arbeit. Die Bukowina war, wie das benachbarte Galizien, ein reiches Land der armen Leute, gesegnet (oder gestraft?) mit einer Vielfalt von Kulturen, Volksgruppen und Sprachen, die auf engem Raum miteinander und nebeneinander lebten. Die Eltern des Autors sprachen miteinander jiddisch, mit den Kindern deutsch, mit dem ruthenischen Gesinde ukrainisch und mit den Gutsbesitzern der Umgebung polnisch oder rumänisch — daß Rosenkranz sich schließlich für Deutsch als Sprache seiner Dichtung entschied, hat wohl damit zu tun, daß die Familie vom Dorf nach Czernowitz zog, das noch lang nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie ein wichtiges Zentrum der deutschen Literatur bleiben sollte, wie die Namen Paul Celan und Rose Ausländer belegen, in deren Schatten der deutsch-jüdische Dichter Moses Rosenkranz immer stand. Das zentrale Ereignis dieser Kindheit zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist der große Krieg, der die scheinbar so 26 festgefügte Welt wie ein Kartenhaus zum Einsturz bringt. Der Krieg erscheint dem jungen Moses als Aneinanderreihung absurder Episoden. Die österreichischen Behörden machen Jagd auf Verräter und Spione unter den eigenen Leuten, der meist Unschuldige zum Opfer fallen. Das Haus der Rosenkranz’ wird niedergebrannt, die Familie flieht, zuerst in die Berge, dann aus der Bukowina weiter nach Schlesien, schließlich nach Prag, von wo sie bei Kriegsende wieder in die Bukowina zurückkehrt. Doch in den jüdisch-ruthenisch-rumänischen Dörfern am Fuße der Waldkarpaten, in denen sie vor der Katastrophe zu Hause waren, sind sie als Juden nicht mehr sicher, und sie gehen nach Czernowitz. Hier erlebt der Heranwachsende „das Chaos auf dem Grabe der alten Ordnung“, das auch seine Familie zerreißt. Die Kindheit ist endgültig zu Ende. Für die Herausgabe der schmalen Autobiografie müssen wir dem Rimbaud Verlag, der sich der Literatur aus der Bukowina annimmt, danken. Schade nur, daß die Erinnerungen so abrupt abbrechen, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, denn auch in späteren Jahren erlebt Rosenkranz das 20. Jahrhundert, wie wir aus dem Nachwort von Matthias Huff erfahren, mit einer schmerzlichen Intensität, die uns heute unvorstellbar erscheint: den wachsenden Nationalismus in der rumänisch gewordenen Bukowina, die tödliche Bedrohung durch Hitlerdeutschland, die Arbeitslager der rumänischen Faschisten und schließlich den stalinistischen Gulag, in dem der Autor für zehn Jahre verschwindet. Wie gern würden wir die Fortsetzung dieses erstaunlichen Lebens lesen, erzählt in dieser wunderbaren Sprache, die Rosenkranz als großen Prosadichter auszeichnet. Moses Rosenkranz: Kindheit. Fragmente einer Autobiographie. Aachen: Rimbaud 2001. 251 S.