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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT kunstbühnen. [...] Also diese drei Dinge schwebten ihm als Möglichkeiten vor. Er ist ja leider wenige Monate nach seiner Ankunft in Wien gestorben. Eine scheußliche Geschichte. Er hat damals oft von seinem besten Freund Erwin Chargaff gesprochen, ich war ein bißchen eifersüchtig, weil ich mir einbildete, ich müßte doch sein bester Freund sein. Aber er hat das immer wieder so einmal einfließen lassen, daß also der Chargaff sein bester Freund ist. Und Chargaff hat das auch bestätigt. Ich habe ihn dann einmal getroffen und habe ihm das erzählt, und er sagte: Ja, das stimmt, Albert war mein bester, ja eigentlich mein einziger Freund. Die Perspektive war, auf jeden Fall nach Österreich zurückzukehren, oder hast du mit dem Gedanken gespielt, in England zu bleiben? Ich habe sehr wohl mit dem Gedanken gespielt, in England zu bleiben. Mir ist — ich habe das schon angedeutet — England sehr unter die Haut gegangen. Auch die englische Kultur, davon haben wir noch nicht gesprochen, aber das ist ja klar. Ich habe da ein Menge gesehen, von dem ich bisher nur aus Biichern wuBte. Z.B. das Erlebnis Shakespeare auf englisch zu horen. Ich kannte Shakespeare natiirlich aus der wundervollen Ubersetzung der Schlegels, aber es ist dann doch etwas ganz anderes, wenn man das in englischer Sprache hört. Und ich habe viele englische Shakespeareaufführungen gesehen. Zu meiner Überraschung gab es vorzügliche Musiker, die klassische Musik spielten. Z.B. während des Krieges im bombenbedrohten London zur Zeit der Verdunkelung und der nächtlichen Bombenangriffe habe ich Mozarts Streichquintette — ich glaube auf zwei oder drei Abende verteilt — gehört. Und die Spannung, unter der das alles stand, gehört mit zum Erlebnis. Es war eines der eindrucksvollsten Musikerlebnisse, derer ich mich erinnere. Das waren also englische Musiker mit Mozarts Streichquintetten, die ich damals, soweit ich mich erinnere, zum ersten Mal - im Zusammenhang jedenfalls — gehört habe. Ich habe natürlich auch die englische ältere Musik kennengelernt, auch durch die genannten Chöre, ich habe natürlich versucht, möglichst gute Stücke auszuwählen, da gibt es ja allerhand englische Madrigale aus dem 16. und 17. Jahrhundert, „street crys of London“, solche Dinge also, Kompositionen, die die Straßenrufe, die Verkaufsrufe integriert haben. Purcell, aber auch sonst das englische Singspiel, wir haben ein Stück von Dibdin, einen von den kleineren englischen Geistern des Barock, ein wunderhübsches Operettchen. Also kurzum, ich habe dort Dinge kennen gelernt und mich wirklich inten TRUST siv damit beschäftigt — auch mit dem Zusammenhang, aus dem sie kamen. Das waren große Eindrücke. Und ich habe sehr wohl mit dem Gedanken gespielt dort zu bleiben. Aber als sich dann herausstellte, daß in Wien eine Aufgabe auf uns wartet — wir waren also geradezu von einem Sendungsbewußtsein erfüllt -, da habe ich mich dann schnell entschlossen, nach Wien zurückzugehen. Ich war auch unter den ersten. Womit habt Ihr gerechnet mit Eurem Sendungsbewußtsein, auf welche Bevölkerung zu stoßen? Ist das auch diskutiert worden im Exil, was aus den Menschen geworden ist unterm Faschismus? Wir haben die Situation völlig falsch eingeschätzt. Wir waren davon überzeugt, daß Österreich überfallen wurde, daß zwar ein Teil der Bevölkerung die Nazibarbarei mitgemacht hat, daß aber doch der Kern der Arbeiterschaft daran nicht beteiligt war, wir haben das geglaubt. Und es war eine große Enttäuschung, übrigens nicht nur für die Kommunisten, sondern auch für andere, als in den ersten Wahlen sich herausstellte, daß wir also überhaupt keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatten. [...] Eine Frage, die sich auf alle deine Lebensphasen erstreckt: inwieweit bist du mit Antisemitismus konfrontiert worden und inwieweit hat das dein politisches Verhalten bestimmt — in Wien, in Deutschland? Also zum ersten Mal habe ich überhaupt erfahren, daß ich Jude bin, in der erste Klasse in der Volksschule, als ein Bub aus meiner Klasse in der Pause zu mir kam und sagte ,,Jud, Jud spuck in Hut / Sag der Mamme, das ist gut“ — und da ging ich nach Hause und fragte entsetzt: Was ist das, Jude. Und da haben meine Eltern mit besorgtem Gesicht, mich aufgeklärt. Ich kann nicht sagen, daß ich da einen tiefen Schock bekommen hätte. Aber etwas ist doch passiert, es ist ganz schwer zu beschreiben, zumal es sehr lange zurückliegt. Aber schon die Tatsache, daß ich mich daran erinnere, daß ich diesen Moment 33