OCR
ORPHEUS TRUST sehr genau registriert habe, wo da etwas zu Bewußtsein kam, schon das sagt, daß doch ein Trauma stattgefunden hat. Meine Eltern gehörten beide zu jenen, die sich möglichst unauffällig einpassen wollten, was beiden auch weitgehend gelungen ist. Sie gehörten in diese Teile des österreichischen Bürgertums, wo wirklich die Vermischung von jüdischen und nichtjüdischen Familien kein Problem war. Die Frau Glück hat mir etwas ganz ähnliches erzählt, die Frau von Franz Glück.“ Ich habe sie einmal gefragt: Ich weiß eigentlich gar nicht, sind Sie eigentlich Jüdin. Sagt sie: Das weiß ich auch nicht so genau. Das spielt bei uns keine Rolle. Ja, natürlich Urgroßvater war Jude. Also kurzum, es spielte keine so große Rolle. Das hat dann auch zur Folge gehabt, als dann im Ersten Weltkrieg die jüdische Emigration aus den östlichen Teilen der Monarchie nach Wien einsetzte, meine Eltern - also ich kann es nicht anders sagen — antisemitisch wurden. „Jetzt kommen die und machen uns...“, ich weiß nicht, was sie noch sagten. Am Akademischen Gymnasium, das war ja in dieser Frage ein Gegenpol zum Schottengymnasium, da war das also genau umgekehrt als im Schottengymnasium. Dort gab es nur eine beschränkte Zahl von Juden. Ich glaube drei oder vier haben sie nur aufgenommen pro Klasse. Und bei uns war das ziemlich genau umgekehrt, da waren nur fünf Nichtjuden in unserer Klasse. Das war also eine Situation, in der Antisemitismus an uns nicht herangekommen ist. Und ich wüßte aus meiner Schulzeit vom Alter 10 bis 18 eigentlich nicht zu sagen, daß das in mein persönliches Leben eingegriffen hätte. An der Universität war das anders. Da gab es natürlich starke antisemitische Verbindungen. Als ich mein Doktordiplom abholte, bei dieser Feier, mußten wir den hinteren Eingang der Universität benutzen, weil auf der Rampe waren antisemitische Krawalle. [...] Und da habe ich natürlich schon politisch darauf reagiert. Ich begann mich schon damals auseinanderzusetzen mit dem Problem der Assimilation. Ich habe eigentlich nie, ich kann das ruhig sagen, ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, daß man als Jude eigentlich nach Palästina gehört. Da ein Großteil der Juden während der letzten 2000 Jahre in den verschiedensten Kulturen zur Welt gekommen ist, ist es eine Möglichkeit, sich an die Kultur anzupassen, in der die Eltern, die Vorfahren gelebt haben. [...] Bei meinen Eltern z.B. war das so, daß meine Mutter auf dem Weg über ihren Vater, der religiös war und der als Schneidergeselle mit 16, 17 Jahren aus Böhmen nach Wien gekommen ist und hier allmählich ein wohlhabender Mann und Kleiderfabrikant wurde, der aber immer eine bestimmte religidse Haltung behalten hat, also meine Mutter hatte auch Spuren von religiösem Brauchtum. So hat sie zum Beispiel am Jom Kippur gefastet. Mein Vater hatte das gar nicht. Und ich habe einmal mehr zum Spaß, so als Experiment, mit meiner Mutter gefastet. Ich war aber, seit ich Gymnasiast war, nicht religiös und hatte auch zu dem jüdischen Brauchtum keinen Zugang. Auf Wunsch meiner Mutter habe ich an einer Bar Mizwah teilgenommen — habe diese paar hebräischen Worte lesen gelernt und habe daran teilgenommen, aber das war ohne große innere Anteilnahme. Mich jetzt in irgendeiner Form an die jüdischen, oder religiösen, die Traditionen sind ja alle religiös gefärbt, mich an diese Sitten zu binden, das für meine eigentliche Welt zu halten, wäre etwas ganz Künstliches für mich gewesen, hätte überhaupt nichts von Notwendigkeit an sich gehabt. Eine andere Frage ist, ob man 34 ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT verleugnet, daß man durch Generationen hindurch bestimmte Eigenschaften ererbt hat. Das würde ich nie versuchen, selbst wenn ich es mit meiner Nase könnte. Aber das ist eine ganz andere Frage. Ich kann nicht zustimmen, daß ich irgendeinen Verrat an meiner Tradition an irgendeinem Erbe begehe, wenn ich mich mehr als Wiener fühle denn als Jude. Aber natürlich aus anderen Gründen, weil es eben Antisemitismus gibt, und weil das Problem ein Problem ist, bekenne ich mich zu dem. In England, bei der Rückkehr nach Wien, welche Rolle hat da die Erfahrung des Antisemitismus gespielt? Es hat dann in meinem Leben keine Rolle gespielt, eigentlich auch in meiner politischen Arbeit nicht. Und in der DDR habe ich persönlich eher Sympathien erlebt unter den Studenten als Antisemitismus. Es gab ihn natürlich, aber in meinem Lebenskreis ist er eigentlich nie aufgetaucht. Auch nicht in den letzten Jahren von Stalin, in der Phase des Slansky-Prozesses, als das mit dem Begriff des Kosmopolitismus verdeckt worden ist? Das habe ich zur Kenntnis genommen, natürlich. Hier war es nicht spürbar. Es gab ja zwei Juden im Politbüro: der Norden und der Hager. Zu Ulbrichts Fehlern gehörte der Antisemitismus nicht, bei Chrustschow war das schon anders und bei Stalin natürlich auch. Man hat sich gefragt, was ist denn da los? Aber in der DDR hat das eigentlich keine Rolle gespielt, ich habe es nicht bemerkt. Du schreibst aber irgendwo: Wenn Stalin nicht gestorben wäre, wäre es auch in der DDR zu Prozessen gekommen. Ja, in allerletzter Zeit haben wir dafür Beweise bekommen [...] es gab ja allerhand Anzeichen, daß so etwas vorbereitet wurde. Ich hätte ja auch entlassen werden sollen. Es wurden Materialien gesammelt zu diesem Zweck und die Gesichtspunkte, nach denen dies geschah, waren sowjetische. Also in meiner Anklage z.B. war ein Punkt, das war sonst das Übliche: Ich hätte keinen Kontakt zu den Studenten und zum Lehrkörper und ich sei ein Wissenschaftler und ich verstünde nichts von Musik Du sagst Anklage... Es war keine Anklage, es war eine Entlassung, aber es hatte den Charakter einer Anklage. Der muß weg, weil das und das. Und der spezifische Grund war, daß ich eine österreichische Gruppe innerhalb der Hochschule gegründet habe. [...] Ich hatte in der Tat einen Posaunenlehrer, einen Klavierlehrer, einen Opernregisseur und mich — macht schon vier. Und ich hatte also eine österreichische Gruppe zur Zersetzung der deutschen Hochschule aufgebaut. [...] Das Wort Anklage kam mir deshalb in den Sinn, weil ich hatte ja auch Parteiverfahren und da warst du wirklich wie ein Angeklagter, du mußtest dich verteidigen. Das Parteiverfahren war aber unabhängig von dieser Entlassung Das war nicht in diesem Zusammenhang. Du schreibst hier in einem Manuskript über die ganze Zeit, auch über die Formalismus-Debatte: „An Schönberg und seiner Schule, an anderen Komponisten der Gegenwart, zeitweise auch an bestimmten Formen des Jazz schien mir damals vor allem bemerkenswert, daß sie nur für kleine Gruppen von Hörern verständlich und anziehend seien. Ich selbst hatte in meiner Studentenzeit und im Exil in England zu diesen kleinen Gruppen von Hörern gehört, war zeitgenössischer Musik gegenüber aufgeschlossen, habe manches von ihr auch selbst