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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT aufgeführt und an Jazz hatte ich meine Freude gehabt. Aber das erschien mir nun als Teil jener bürgerlichen Gewohnheiten und Präferenzen, die es abzulegen, die es zu überwinden galt. Ich hielt es für notwendig im Sinne der Erneuerung des Musiklebens, vor dem Formalismus der Moderne zu warnen. Die Komponisten sollten stattdessen an den Zustand jener Zeiten anknüpfen, in denen große Kunst noch große Massen zu erreichen imstande war.“ Ja, das ist der Versuch einer Bestandsaufnahme meines Denkens. [...] Ich war ein Bürgersöhnchen, bin in einem Bürgerhause aufgewachsen. Meine Eltern waren zwar nicht reich aber wir waren wohlbehütet und die Welt schien in Ordnung. [...] Im Jahr 1918 habe ich die ersten Wahlen meines Lebens miterlebt und die ganze Welt wählte bürgerlich-demokratisch: in meiner Schule, die Eltern aller Schüler, natürlich die eigenen Eltern, alle Verwandten, die Tanten, Onkel und Cousinen, soweit sie im Wahlalter waren, wählten bürgerlich-demokratisch. Und im ersten Bezirk gab es auf dem Pflaster Stempel: „Wählt bürgerlich-demokratisch!“ Als die Wahlen kamen, erhielten dann die bürgerlich-demokratische Liste ein oder zwei Mandate, die Sozialdemokraten aber, sagen wir, 60 und die Christlich-Sozialen, sagen wir, 80 — und da fragte ich: wo kommen denn diese Leute alle her, wenn alle ringsum bürgerlich-demokratisch wählen, wo sind die anderen. Das war meine erste Lektion. Daß die Welt nicht so ist, wie ich sie bis dahin gesehen hatte. Und wenn man nun allmählich aufarbeitet, was von dem, was man gedacht hat, nicht stimmt, und was bürgerliche Traditionen und falsche Vorstellungen sind, dann kann man leicht etwas zum Unkraut zählen, was eigentlich keines ist. Interessant finde ich daran, daß du hier auf deine Studentenzeit verweist und auf das Exil in England, wo du noch einen anderen Standpunkt gehabt hast zu diesen Erscheinungen. Das heißt: es hat sich erst ausgeprägt nach ‘45, nach dem Exil? Unter Stalin. Ja, aber Stalin war ja schon vorher. Und die Debatten zum Realismus. Wie hast du das rezipiert? Hast du das zur Kenntnis genommen oder ist das alles erst nach ‘45 aufgetaucht? Nein, ich hab das sehr wohl zur Kenntnis genommen und im größeren Zusammenhang betrachtet: ich fand die Entzweiung zwischen Stalin und Trotzki damals als eine Katastrophe und es gab eine Zeitlang Gerüchte, sie würden sich treffen und würden ihre Meinungsverschiedenheiten bereinigen, und das erschien mir also richtig als Hoffnungsschimmer. Ich fand das katastrophal. Dann, was diese Kunstdebatten angeht, erinnere ich mich deutlich, mit Albert Fuchs darüber gesprochen zu haben, übrigens auch mit Schoen. Und Albert hatte eine sehr dezidierte Meinung, er sagte: das ist die dumpfe Auffassung dieser Menschen, er hat das völlig abgelehnt diese Kunstdebatten. Ich nicht. Ich fand etwas daran [...]: es ist doch wirklich ein Problem, daß die moderne Kunst sich so isoliert von den Massen. Es ist ja auch ein Problem. Das war meine Meinung. Schoen, der also der Entwicklung der modernen Musik viel näher stand und sie auch gefördert hat in seiner Funktion beim Rundfunk in der Weimarer Republik — er war bekannt dafür —, hat also seine Meinung mir gegenüber auch vertreten. Bezeichnend ist aber folgende Geschichte: Wir haben einmal mit unserer Operngruppe bei diesen ersten Versuchen mit dem Fernsehen in England etwas Musikalisches ORPHEUS TRUST beigetragen — und zwar war das eine Dramatisierung einer Erzählung von Thornton Wilder: Happy Journey to Trenton and Camden. Da kam ein Gespenst vor - und für diese Szene habe ich also ein kurzes Stück in der Zwölftontechnik geschrieben. Und Ernst Schoen hat mich da gleich zur Rede gestellt: „Aha“, sagte er, „Sie verwenden die Zwölftonmusik also nur fiir Gespensterauftritte, fiir das Schreckliche!“ Und nachdenklich sagte er einmal in anderm Zusammenhang: „Gewiß, die ganze Schönbergschule lebt ja auf einem Friedhof.“ Ich hatte also nichts gegen moderne Musik an sich, ich habe diese Aufführungen mit großer Liebe und, ich glaube, auch gut, mit Kenntnis der Sache vorbereitet. Es war ja auch Alban Berg darunter und Strawinsky. Ich fand das sehr gut. Als ich in meinen Vorlesungen dann über den Formalismus gesprochen habe, habe ich auch nicht die Musik heruntergesetzt, sondern ihre Stellung innerhalb des Kulturlebens. [...] Wiirdest du sagen, daß im Exil diese Fragen noch offener waren, es sich erst nach ‘45 in der Kulturpolitik der KPÖ und in der DDR so verfestigt hat — in der Aufbausituation? Das ist ganz richtig. In der Emigration hat es ja keine praktischen Folgen gehabt. Ich habe da moderne Musik aufgefiihrt, ob das nun zum Erbe gehört oder ob es die Massen erreicht... Die Schriften von Adorno oder dem Institut für Sozialforschung — waren die damals bekannt? Nein, ich habe Adorno erst in Wien gelesen. Es ist denkbar, daß ich das eine oder andere von ihm gesehen habe, aber die Bedeutung seiner Arbeit habe ich erst später zur Kenntnis genommen. Wie ich überhaupt erst mich bewußt mit ästhetischen Problemen beschäftigt habe, als ich in der DDR anfing. Bis dorthin war vorwiegend das Praktische meine Ausrichtung. Die Beziehung zu Eisler war unterbrochen in England. Er war ja nur zeitweise in England. Wir hatten aber einen Kompositionskurs im kleinsten Zirkel, drei, vier, fünf Leute [...]. Eisler hat die c-moll-Variationen von Beethoven in der Art wie Schönberg als Kompositionsunterricht analysiert. Teilnehmer waren: E. H. Meyer, meine Frau Käte, zeitweise Ernst Schoen und ich. Und Eisler war natürlich ungeheuer geistvoll — in der Art wie Schonberg oder [Erwin] Ratz so etwas anpacken. Und wir haben dann aber auch nach dem Muster bestimmter Variationen, die analysiert wurden, selbst kompositorische Arbeiten gemacht. Ich war der unbegabteste, als Komponist. Ich habe festgestellt, daß die Käte gar nicht schlecht war. Eisler war ganz entzückt von manchem, was sie gemacht hat. * Das Interview, das Gerhard Scheit im Rahmen eines gemeinsam mit Wilhelm Svoboda durchgeführten Projekts (Leitung: Walter Pass) des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung „Österreichische Komponisten im Exil“ führte, fand am 2. und 3. Mai 1992 in Berlin-Grünau statt. ** Franz Glück (1899 — 1981), hatte Germanistik und Kunstgeschichte studiert, arbeitete von 1924 bis 1938 für den Kunstverlag Anton Schroll. 1949-68 Direktor der Historischen Museen der Stadt Wien. Er war durch seinen Bruder Gustav Glück mit Walter Benjamin bekannt. 35