ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT
Wir haben, im Grunde genommen, bloß erste Schritte der Er¬
kundung gemacht, wie Mozart Konstruktionsprinzipien, Kom¬
positionstechniken, einzelnen Stücken übergreifende Zusam¬
menhänge verwendet, um Gesinnungen, Haltungen, Denkpro¬
zesse, Aktionen in Musik umzusetzen. Die Vermittlungen sind
sehr komplex, die ins Spiel kommen, wenn Musik gemacht
wird, erst recht, wenn ein großer Komponist an einer Mensch¬
heitswende zu Werke geht. Aber es hat sich doch gezeigt, daß
solche Schritte möglich sind und, über die unmittelbare Frage¬
stellung hinaus, zu einer zeitgenössischen Theorie der Musik
führen.
„Es geht stets um mehr als Ästhetik“, sagten wir. Auch aus
einer musikästhetischen Betrachtung darf die Frage nicht aus¬
geklammert werden, wie es kam, daß der Realitätsbezug der
Musik, der in der Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft
eine Selbstverständlichkeit war, inzwischen verdrängt, in Frage
gestellt, ja mit Argwohn betrachtet wird. Es ist eine relevante
Frage, was aus der bürgerlichen Gesellschaft selbst geworden
ist, an deren revolutionären Anfängen Mozart mitwirkte, aus
ihren neu gesetzten Realitäten, ihren noblen Intentionen, ihren
heroischen Illusionen.
„Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der
Egoismus sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz
mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle
Drangsale der Gesellschaft.“ So schrieb Friedrich Schiller nur
fünf oder sechs Jahre nach Mozarts Tod. Und bloß drei Jahr¬
zehnte später dichtete Franz Schubert: „Denn tatlos mich auch
diese Zeit zerstäubet‘“ — eine Zeile, die für ihn und sein Werk
ebenso charakteristisch wie der Erscheinung Mozart fremd ist.
Und nur eineinhalb weitere Jahrzehnte vergingen, und Heinrich
Heine schrieb: „Die Männer des Gedankens, die im achtzehn¬
ten Jahrhundert die Revolution so unermüdlich vorbereitet, sie
würden erröten, wenn sie sähen, für welche Leute sie gearbei¬
tet haben, wenn sie sähen, wie der Eigennutz seine kläglichen
Hütten baut an die Stelle der niedergebrochenen Paläste, und
wie aus diesen Hütten eine neue Aristokratie hervorwuchert,
die, noch unerfreulicher als die ältere, nicht einmal durch eine
Idee, durch den idealen Glauben an fortgezeugte Tugend sich zu
rechtfertigen sucht, sondern nur in Erwerbnissen, die man ge¬
wöhnlich einer kleinlichen Beharrlichkeit, wo nicht gar den
schmutzigsten Lastern verdankt, im Geldbesitz, ihre letzten
Gründe findet.“ Und Heinrich Heine seinerseits würde erröten,
könnte er sehen, was aus jener neuen, im Geldbesitz ihre letz¬
ten Gründe findenden Aristokratie geworden ist.
Gewerbe, Industrie und Handel, Künste und Wissenschaften
zu fördern, war das Ziel der Revolutionen in Amerika und
Frankreich, war das Ziel der Aufklärung, wie in allen, so auch
in den deutschen und österreichischen Landen. Das ist über
alle Erwartung gelungen. Die Bourgeoisie hat die leistungs¬
fähigste Gesellschaftsformation hervorgebracht, die die Welt
bislang gesehen hat, und mit der technisch-wissenschaftlichen
Revolution, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
begonnen hat, sind Möglichkeiten aufgerissen, von denen nie¬
mand sagen kann, ob sie zum Untergang der Menschheit
führen oder ob nicht doch eine vernünftige Weltordnung mög¬
lich ist, in der sie der Glückseligkeit der Völker dienstbar ge¬
macht werden können, von der die Aufklärung träumte.
Bislang ist dieses Ziel verfehlt worden in der leistungsfähig¬
sten aller bekannten Formationen. Und der Keim dieser Fehl¬
entwicklung lag in ihren Anfängen; manche Leute haben es
schon damals gewußt. Nicht „der weise Mann“, dessen Herauf¬
kommen die drei Knaben prophezeit hatten, „siegte“, sondern
der geldbesitzende, und die Erd’ ist wahrhaftig kein Himmel¬
reich geworden unter seiner Herrschaft. Vier Fünftel der Mensch¬
heit leben im Elend, täglich verhungern Tausende. Von der
Freundschaft Harmonie kann keine Rede sein. Die frommen
Wünsche, die Mozart im Todesjahr in Musik setzte (KV 619,
Takte 92ff.), sind immer noch fromme Wünsche geblieben: „In
Kolter [Pflüge] schmiedet um das Eisen, das Menschen-, das
Bruderblut bisher vergoß!“ und: „Zersprenget Felsen mit dem
schwarzen Staube, der mordend Blei ins Bruderherz oft schnell¬
te!“ Milliardenbeträge verdienen manche der weisen Männer an
dem „Eisen“, an dem „schwarzen Staube“, unendlich perfektio¬
niert inzwischen, und der Planet droht darüber zugrunde zu ge¬
hen. Und daß aus Jeffersons Entwurf der Unabhängigkeitserklä¬
rung schon im Jahre 1776 alle Passagen gestrichen wurden, die
die Versklavung der Einwohner Afrikas verurteilten, ist sympto¬
matisch.Die Zeilen aus der Zauberflöte-poetische und gesetzent¬
werfende Texte sprachen damals eine ähnliche Sprache — „Bald
wird der Aberglaube schwinden“ klingen heute wie Hohn.
Selbst noch in den letzten Verästelungen auch des Musik¬
lebens, das sich unter solchen Umständen herausbildete, lassen
sich Konsequenzen des Weltzustandes aufdecken.
Als in den zwanziger Jahren mein Vater mich in die Abon¬
nementkonzerte der Wiener Philharmoniker im Großen Mu¬
sikvereinssaal mitnahm — an Sonntagen um 10 Uhr angesetzt,
so daß die Musikenthusiasten vorher bequem frühstücken und
nach Konzertschluß zu dem von der Köchin inzwischen zube¬
reiteten Sonntagsbraten zurechtkommen konnten -, empfand
ich die Glätte vieler Aufführungen durch Felix von Wein¬
gartner und die höflich-laue Reaktion des Publikums um so un¬
behaglicher, als ich ihre Ursachen nicht durchschaute. Für das
bürgerliche Konzertpublikum, wie es sich im Europa des 19.
Jahrhunderts herausgebildet hatte, war das Konzept von der
Gegenstandslosigkeit der Musik und den Scheingefühlen, die
sie auslöst, plausibel, ja adäquat. Der Mehrzahl der Konzert¬
besucher ging es gewiß nicht um echte Gefühle, um aufwüh¬
lende, gegenwartsbezogene Erlebnisse. Etwas von der Art des
metaphysischen Idealismus, wie ihn Paul Moos vertrat, be¬
herrschte die Vorstellungen auch derer, die sich nicht mit Philo¬
sophie beschäftigten. Es war die klassische Zeit für Theorien,
die Grenzlinien zogen und befestigten zwischen Kunstübung
und außerkünstlerischer Realität.
* 1. Aufl.: Berlin: Henschel-Verlag 1991; 2. Aufl.: Frankfurt/M.:
Fischer TB 1993.