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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Doch gab es auch eine musikalische Gegenwelt zur weltlosen, mit Scheingefühlen zufriedenen Musiziersphäre der Bürger. Viele junge Menschen von damals fanden sie in den die Wände des Konzertsaals zu sprengen scheinenden Aufführungen der Mahlerschen Sinfonien, die die Bürgerwelt aus den Angeln zu heben schienen. Die Bereitschaft, Musik auf solche Art, in Opposition zur bürgerlichen, zu hören, kam nicht aus einer besonderen Art von Musikalität. Was uns Junge von der Mehrzahl bürgerlicher Konzertbesucher unterschied, war ein neuartiges politisches Erlebnis. Die Revolution in Rußland, der Zusammenbruch der Monarchien in Deutschland, Österreich und in Balkanländern, der Aufschwung der organisierten Arbeiterbewegung, die wütende Reaktion des reaktionärsten Flügels der Bourgeoisie darauf — alles das hatte in uns ein Bewußtsein von der notwendigen und möglichen Ablösung der Bürgerwelt durch eine andere aufkommen lassen. Die Grade dieses Bewußtseins und die komplizierten Prozesse, durch die es sich bildete, waren verschieden; uns gemeinsam war die Ahnung, daß auch den Kompositionen Beethovens und Mahlers vergleichbare politisch-moralische Impulse zugrunde lagen. Das galt sogar für Mozart. Die Aufführungen von Figaro und Don Giovanni an der damaligen Wiener Staatsoper — Aufführungen, in denen etwas vom Geiste Gustav Mahlers sich erhalten hatte und der eine oder die andere der von ihm engagierten Darsteller noch mitwirkte — hatten damals etwas Aufrührerisches an sich. Heiner Müller hat diese Erfahrung in die Worte gefaßt, daß man, sich selbst an einem historischen Drehpunkt findend, „alte Kollisionen ganz neu sehen kann“ — er spricht hier von der Tragödie der Alten Griechen - und daß es wichtig und produktiv sei, „auf dieser neuen Drehscheibe die alte Drehscheibe anzusehen“. Auf dieser, unserer heutigen „Drehscheibe“ spielen sich Dinge ab, die viele Leute glauben lassen, Aufklärung und vernünftige Weltordnung hätten nun keine Chance mehr. Aber wir befinden uns immer noch mitten in jenen Prozessen, die mit der Aufklärung eingeleitet wurden, und ihr Ausgang liegt immer noch in der Hand der Menschen. Die Worte, mit denen Sarastro in der ersten Szene des zweiten Aktes die Versammlung seiner Priester „eine der wichtigsten unserer Zeit“ nennt und den Sprecher beauftragt, die Novizen zu lehren, „was Pflicht der Menschheit sei“, gemahnen sicherlich eher an die Sprache von Kindern, die Erwachsene spielen. Aber Mozart nahm sie ernst. Es trifft sich so, daß er in einem Brief vom 9. Oktober 1791 gerade auf diese Szene zu sprechen kommt. Er teilt Konstanze mit, er habe bei einer der ersten Aufführungen der Zauberflöte in seiner Loge einen ungehobelten Gast aus Bayern zu Besuch gehabt. „Unglückseligerweise“, heißt es dann, „war ich eben drinnen [nämlich in der Loge], als der zweite Akt anfing, folglich bei der feierlichen Szene. — Er belachte alles; anfangs hatte ich Geduld genug, ihn auf einige Reden aufmerksam machen zu wollen, allein — er belachte alles; — da wards mir nun zuviel — ich hieß ihn Papageno, und ging fort —.“ Mozart bewies mehr historischen Sinn als manche seiner Interpreten von heute, die darüber nachdenken, ob Die Zauberfléte nicht ein Machwerk ist. In der Sprache und im Rahmen der Vorstellungswelt, die dem Publikum eines VorstadtTheaters angemessen ist — aber unter Einschluß der sublimsten Musikformen —, haben Mozart und Schikaneder große Ideen ihrer Zeit in Theaterbilder umgesetzt. Die Worte von „einer der TRUST wichtigsten Versammlungen unserer Zeit“ und der „Pflicht der Menschheit“ hatten den Klang der Neuheit in einer geschichtlichen Epoche, in der solche Versammlungen in der Tat stattfanden und solche Pflichten ernst genommen wurden. Der Begriff „Menschheitsgeschichte“, ja überhaupt „Menschheit“ begann erst im späten 18. Jahrhundert sinnvoll zu werden, seit seine Revolutionen mittels Industrie und Handel, die sie freisetzten, den letzten Winkel der Erde in den Strom der Geschichte hineinrissen. Und Versammlungen wie die vom 4. Juli 1776, in der Jeffersons Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika unterzeichnet, die „unveräußerlichen Rechte“ aller Menschen — „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ [life, liberty and the pursuit of happiness] — zu „selbstverständlichen Wahrheiten“ [as self-evident] erklärt wurden, gehörten in der Tat zu den wichtigsten der Zeit. Oder die des französischen Nationalkonvents vom 7. Februar 1794, in der die Abschaffung der Sklaverei beschlossen wurde, Afrikaner sich mit dem weißen Mann verbrüderten und eine schwarze Mutter ihr Baby hochhielt, auf daß sich ihm der große Augenblick einpräge. In Walter Felsensteins unvergessener Zauberflöten-Inszenierung aus dem Jahre 1954 wurde die Sarastro-Sphäre ernst genommen, ihre Worte gesprochen, als hätte Lessing sie geschrieben, und in dem Kreis der Männer und Frauen im Reiche der Eingeweihten gab es neben den Weißen Schwarze, Braune und Gelbe. Die Zauberflöte formuliert die reale Möglichkeit der Menschheitsbefreiung, die die Amerikanische und die Französische Revolution auf die Tagesordnung der Geschichte gesetzt hatten, wo sie, heute erst recht unrealisiert, immer noch steht. Zwar werden härtere Probleme zu lösen sein als die Erfüllung des Wunsches Bekämen doch die Lügner alle Ein solches Schloß vor ihren Mund! Und: Haß, Verleumdung, schwarze Galle sind zu milde Worte, und der Theaterdonner der viermal wiederholten Sekundschritte der Musik, die Mozart für diese Zeile erfunden hat, sind zu milde Farben: Allegro ob. 9” £ Horner ver — 37