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schaffung des Bundesheeres, eine Bildgeschichte über rauschgiftschnüffelnde Professoren. Von der Schulobrigkeit wird die Zeitung nicht besonders goutiert, aber stillschweigend geduldet. Allerdings hat einer der Redakteure, der stets um Wirkung bemühte spätere Schriftsteller E.H., die Schülerzeitung an alle Parteien, also auch an die Stadtleitung der KPÖ geschickt. Zwei oder drei Wochen später erscheint in der kommunistischen Tageszeitung „Neue Zeit“ (Chefredakteur: Franz Kain) eine etwas gönnerhaft verkniffene, letztlich jedoch zustimmende Besprechung. Daraufhin bricht in der Direktion ein Sturm der Entrüstung los. Die sechzehn- und siebzehnjährigen Zeitungsmacher werden nacheinander aus der Klasse geholt und in der Kanzlei zwei Männern, nämlich dem tobenden Direktor und seinem geduckten Administrator (beide SPÖ), vorgeführt, die sie wegen des Beifalls von der falschen Seite niedermachen. Zuletzt fragt der Direktor (auch Stadtrat; hat als Lehrer viel und gern vom Krieg schwadroniert), ob die Eltern mit dem Zeitungmachen überhaupt einverstanden sind. Alle antworten wahrheitsgemäß: Nein. Nur ich lüge, aus Instinkt und weil ich mir Respekt verschaffen muß: Ja, natürlich ist es ihnen recht. Sehr sogar. Zu Hause erzähle ich meinen Eltern von diesem demütigenden Verhör. Ich erwarte, daß sie mir beistehen. Stattdessen schimpfen sie mit mir. Hättest nicht mitgemacht. Ich heule vor Wut. Die Schmach vergesse ich nie. Diese Anekdote taugt nicht: es fehlt ihr der zarte Pinselstrich der Phantasie. Jedoch lüftet sie allerhand, nicht nur das Klassenzimmer. Ich notiere: Steyr, Frühjahr 1971. Kleiner Einführungskurs in den Fächern Demokratie und Hysterie, Kommunismus pfui, also könnte was dran sein. Zweites Gebot: Du sollst die Freundschaft rühmen In Erinnerung der Partisanentätigkeit im Salzkammergut würdigt Franz Kain die Bedeutung der Großfamilie. Entfernte Verwandte, zu denen es früher kaum noch Beziehungen gegeben hatte, seien den von den Nazis Gejagten beigestanden. Er schreibt: „Eine alte, im Dialekt noch durchaus lebendige Bezeichnung für die Verwandtschaft ist ‚Freundschaft’. Der Ausdruck ‚wir sind in der Freundschaft’ heißt soviel wie ‚wir sind miteinander verwandt’. Diese Freundschaft hat sich bewährt in der schwersten Zeit als eine Freundschaft auf Leben und Sterben. Tauf- und Firmpaten, meist nur noch Formalitat und freundliche Gefälligkeit, bekamen das Gewicht echten und tapferen Beistandes. Viele dieser ‚Godn’ und ‚Gödn’ haben in bewundernswerter Solidarität unter Einsatz ihres eigenen Lebens das der tödlich bedrohten ‚Patenkinder’ gerettet.“ Das erinnert mich an einen anderen Bericht aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort, Lateinamerika, Diktatur, Mitte der siebziger Jahre: Franz Kains uruguayischer Kollege Eduardo Galeano stimmt das „Lob der Freundschaft“ an. In Havannas Vorstädten, schreibt er, nennen sie den Freund „mein Land“ oder „mein Blut“. In Caracas ist der Freund „mein Brot“ oder „mein Schlüssel“. Das mit dem Brot versteht Eduardo, denn Brot, gutes Brot, vermag auch den Hunger der Seele zu stillen. Aber Schlüssel? „Warum Schlüssel, fragst du. Das ist doch klar“, sagt Eduardos Landsmann Mario Benedetti. Und Mario erzählt, daß er in Buenos Aires, in den Jahren des Terrors, fünf fremde Schlüssel bei sich trug. Fünf Schlüssel zu fünf Wohnungen von fünf Freunden: die Schlüssel, die ihn retteten. 40 Drittes Gebot: Du sollst neugierig sein Vier spanische Kasernen. In der ersten Kaserne befindet sich ein Schwimmbecken. In das Becken wird nie Wasser eingelassen. In der zweiten Kaserne gibt es eine Zelle, in der eine Pistole einsitzt. In der dritten Kaserne wird ein Esel verhaftet und abgeführt. In der vierten Kaserne, auf dem Kasernenhof, müssen Rekruten seit Menschengedenken neben einer Bank Wache schieben. Das sind noch keine Geschichten. „Die Geschichts-Wissenschaft“, schreibt Franz Kain, „zielt auf Aktenschrank und Zeugnistruhe der Historie, die Literatur wühlt lieber in deren ungeordneten Wäscheschränken.“ Manchmal hilft einem allerdings auch der Aktenschrank weiter. Dann erfährt man folgendes: In der ersten Kaserne war das Schwimmbad mit fünf Jahren Wasserentzug bestraft worden, weil in ihm ein Leutnant ertrunken war. In der zweiten Kaserne war die Dienstpistole eines Gefreiten inhaftiert; beim Hantieren mit ihr hatte sich ein Schuß gelöst, der den Gefreiten tödlich traf. Der Esel in der dritten Kaserne wurde wegen Befehlsverweigerung und Körperverletzung eingesperrt, da er, Lasttier einer Division, ausgeschlagen und einem Hauptmann drei Rippen gebrochen hatte. Im Hof der vierten Kaserne wurde der Befehl, eine Sitzbank rund um die Uhr zu bewachen, erst aufgehoben, als ein Offizier im Archiv Nachforschungen anstellte; er fand heraus, daß die Bank 31 Jahre, 2 Monate und 4 Tage zuvor gestrichen worden war. Um zu vermeiden, daß sich jemand auf die frische Farbe setzte, hatte man einen Posten zur Bewachung abgestellt. Viertes Gebot: Du sollst auf der Hände Arbeit achten Vor zehn Jahren entwirft Franz Kain Steyrer Szenen aus den dreißiger und vierziger Jahren. Er erinnert sich an das Geflecht von Können, Vertrauen und Widerstand. In seiner Erinnerung widerstreitet der Ehrgeiz, erstklassige Güter herzustellen, mit dem Wissen um ihren ehrlosen Gebrauch. Kain nennt den Automechaniker Franz Brandstätter aus Ternberg bei Steyr, seinen Zellengenossen im Linzer Polizeigefängnis, der im Konzentrationslager Dachau in einem großen Zwiespalt befangen war: „Er sabotierte die Rüstungsarbeit und hätte doch so gern dem Verlangen nach Qualitätsarbeit nachgegeben.“ Kain nennt auch den Steyrer Werkzeugmacher Franz Draber, der 1944 zum Tode verurteilt wurde und aus der Haftanstalt Stadelheim floh; die Flucht war möglich, weil Draber, wegen seines handwerklichen Könnens hoch angesehen, den Gefängniswärtern den einen und anderen Gefallen erwies - er flickte Fahrradschläuche, reparierte Nähmaschinen, bastelte Rahmen für Bienenhäuser. So kam er im Gefängnis herum und sah, was er nicht sehen sollte: die schmale Pforte in die Freiheit. — Mit dem Zwiespalt, den Kain an Franz Brandstätter nachweist, ist übrigens auch Franz Draber schwer zurecht gekommen; mir hat er erzählt, er und seine Mitverschwörer hätten in den SteyrWerken, in den Monaten vor ihrer Verhaftung, oft über Sabotage debattiert. Sie arbeiteten an hydraulischen Aggregaten für die Messerschmitt-Maschinen, und eine kleine Scharte, etwas Schmirgel hätten gereicht, einen Absturz oder eine Bruchlandung hervorzurufen. Das sei gegen ihre Berufsehre gegangen, vor allem aber: unter den Piloten oder der Besatzung hätte einer wie sie sein können, ein Nazigegner, ein Freund. Von diesen Gewissensnöten bei der Hände Arbeit schweigt die Geschichte.