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Fünftes Gebot: Du sollst nicht einer gebratenen Taube harren Nicht der Inspiration gilt die Sorge des Erzählers, sondern dem Handwerk ihrer Anverwandlung. Debatten über die Rolle des Schriftstellers oder die Aufgabe der Literatur können ihm gestohlen bleiben, aber das Metier ist ihm wichtig. Es ist kein Zufall, daß Franz Kain, nach seinen Lieblingsbeschäftigungen befragt, gleich nach dem Lesen und Schreiben ein Handwerk anführt, Arbeiten mit Holz, mit lebendigem, also historischem Material. Von daher rührt sein Interesse am Verhältnis von Geschichte und Literatur. Die herkömmliche Geschichtsschreibung — auch diejenige, die sich bemüht, Geschichte gegen den Strich zu bürsten — erscheint ihm ungenügend, die Wahrheit zu ergründen: von den ‚inneren Vorgängen“ im Leben eines Menschen weiß sie nichts zu berichten. Hingegen gefällt ihm ein Geschichtsarbeiter wie Peter Kammerstätter. Kammerstätter hat „Materialsammlungen‘“ zur oberösterreichischen Sozialgeschichte angelegt. Diese Sammlungen stehen, so penibel sie auch zusammengetragen wurden, offen für den Gebrauch: sie reizen die Vorstellungskraft des Erzählers. Kammerstätters Methode war die des „Einkreisens‘“ — er ließ sich von einem Menschen dessen Lebensgeschichte erzählen, befragte aber zusätzlich eine Reihe von Personen nach deren Erinnerungen und Eindrücken. Dadurch entstand eine Bespiegelung von mehreren Seiten; das gab, schreibt Kain, dem Bild zusätzliche Schärfe. Finden und Auswählen des Materials sind erste Arbeitsschritte des Handwerkers, der längst Überlegungen über die Bearbeitung und Gestaltung anstellt. Franz Kain hat davon immer wieder Mitteilung gemacht. Aber sein Schreiben über das Schreiben zielt nicht auf philosophische Erkenntnis, ist eher Selbstverständigung aus Not, weil Werkstattgespräche von mißtrauischen Kollegen gemieden werden. Der glatte Jargon der Symposien ist ihm zuwider. Kain sagt nicht „Genie“, sondern „Gespür“. Er läßt sich in seine Karten blicken, macht kein Geheimnis um rettende Einfälle, sinniert darüber nach, wie was anzupacken, in Blöcke zu hauen, neu zusammenzusetzen wäre. Er steckt tief drinnen in „der zwiespältigen und dunklen Vielschichtigkeit der Sprache“. Er hat Geduld und Geschick, er ist der Schlammgräber, der in Tonnen von Erde und Gestein wühlt, bis ein Goldkorn zwischen seinen Fingern blinkt. Er sitzt im Wirtshaus, wo er sich an das fünfte Gebot des Erzählers hält: zu schweigen und zu hören, zuzuhören, ohne den Mund aufzusperren in Erwartung einer gebratenen Taube. Sechstes Gebot: Du sollst um den Fortgang wissen Wer erzählt, erinnert. Dieser Satz birgt ein Mißverständnis. Erinnerungen, schreibt Franz Kain, dürfen nicht zu sehr mit Erfahrungen befrachtet sein, die einer erst in späteren Jahren sammelt. Deshalb rühmt er auch Henriette Haills Erzählungen: sie seien „„historisch’ im besten Sinne, nämlich mit den Augen und der Verständnismöglichkeit von damals betrachtet“. Andererseits: Man darf sich nicht dümmer stellen als man ist. Um eine Geschichte aus der Unmittelbarkeit des Geschehens zu heben, braucht es das Wissen um ihren Fortgang. Umgekehrt gilt es, Erscheinungen als Wirkungen zu erkennen. Der Türstock eines Bergbauern pecht. Schon beim Hobeln hat sich der Pfosten an dieser Stelle nicht glätten lassen. Der Bauer forscht nach dem Standplatz der Lärche, aus der der Pfosten geschnitten wurde. Er findet heraus: es ist dieselbe Lärche, die er einst, als Knabe, abbrechen wollte, nachdem ihn sein Vater beauftragt hatte, aus dem Jungwald einen Peitschenstiel zu holen. Die junge Lärche hatte, zerzaust zwar, den Bemühungen des Buben widerstanden. Aber das Würgmal war geblieben. Nur muß man es als solches erkennen. Dann erst schreiben. Siebtes Gebot: Du sollst der Zeit ihre Verzweiflung lassen Der Sozialist Theodor Kramer singt das „Lob der Verzweiflung“. Das ist den Genossen nicht recht. Hat er sich von ihnen, haben sie sich von ihm entfernt? Die zunehmende Entfremdung erörtert Konstantin Kaiser in einem Aufsatz mit dem Titel „Demokratischer Epikuräismus“. Er zitiert Walter Benjamins Urteil, demzufolge sich die Sozialdemokratie darin gefallen habe, „der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.‘ Durch diese Orientierung, schreibt Kaiser, sei ein asketischer Zug in die Arbeiterbewegung gekommen. Enthaltsamkeit, wohldosierter Genuß und organisierte Erholung seien in bloße Mittel umgeschlagen, der beruflichen Anforderung und der Konkurrenz am Arbeitsplatz gewachsen zu sein. Der Fortschritt der Arbeiterbewegung habe sich in vieler Hinsicht als ein Vormarsch in den Konformismus erwiesen. „In Wirklichkeit ist die Gewöhnung daran, Unrecht ohne Empörung hinzunehmen, nur der allzu spontane Reflex auf die Verfestigung des Unrechts zum System. Mit der Empörung über das Unrecht ging auch das Bild des Glücks und der Erfüllung, deren reale Möglichkeit durch das Unrecht vernichtet worden war, verloren — ging die menschliche Fähigkeit verloren, das eigene Bedürfnis ungeachtet seiner Übersetzung in Berufssituationen und Beziehungskonstellationen zum Maßstab des Treibens zu machen.“ Das Ideal der befreiten Enkel gilt auch Franz Kain wenig. Keine einzige Geschichte jagt ihren Lesern das Prickeln heutigen Wohlstands über den Rücken. Wie in Kramers Gedichten stellt sich in seinen Erzählungen und Romanen die Vernichtung menschlicher Substanz nicht als Unfall dar, dessen Folgen durch Reformen behoben werden könnten. Das konkrete Leid wird nicht verallgemeinert. Er sympathisiert weder mit dem Asketismus noch mit dem schalen Hedonismus des materiellen Aufstiegs. Das zeigen auch die Debatten zwischen Repräsentanten gesellschaftlicher Heilslehren, die die Chronologie seines autobiographischen Romans „Am Taubenmarkt‘“ immer wieder aufreißen: „Der Sozialdemokrat“; „Der Kommunist“; „Der Trotzkist“; „Der Zeuge Jehovas“; „Der ReklamezettelVerteiler“, „Der Altnazi“. In ihrem letzten Auftreten äußern sich der Sozialdemokrat und der Kommunist zur Perspektive des unverstellten Glücks. „DER SOZIALDEMOKRAT: Es ist überflüssig, sich zu merken, wann der Kaiser seinen letzten Rehbock geschossen hat. Den jungen Friedrich Adler braucht man nicht nennen, wenn man den alten, den richtigen, kennt. Das Vernünftige ist richtig und nicht das Extrem. Man muß sich wirklich nicht merken, wann ein Hurenweib in der Donau dersoffen ist, da gibt’s wohl andere Sorgen, san ma ehrlich. - DER KOMMUNIST: Ihr begrabt die eigene Tradition vor lauter Bravsein. Nichts bleibt von selbst erhalten, wenn es nicht mehr im Lesebuch oder wenigstens in der Zeitung steht und wenn es keinen Gedenkstein mehr gibt. Die Menschen am Rande geben besser Auskunft über die Beschaffenheit einer Gesellschaft, als die faule ‚goldene’ Mitte. Laß’ der Zeit ihre Verzweiflung.“ 41