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nichtungslager der Nationalsozialisten. Zwischen diesen Orten lassen sich Verbindungslinien ziehen, die von Mauthausen, Dachau, Auschwitz nach Buchenwald führen und umgekehrt. Für Franz Kain lag Mauthausen in nächster Nähe. Bei mir nimmt Buchenwald diese Stelle ein. Den Bergrücken, auf dem das Konzentrationslager unter härtesten Bedingungen von Häftlingen aus dem Boden gestampft wurde, sehe ich von meinem Arbeitszimmer aus. Und ich denke daran, wie viele Österreicher da hinauf gebracht wurden von Dachau, später vor allem von Auschwitz. Neben den Darstellungen der Historiker, u.a. „Rotweißrot in Buchenwald“, kenne ich zahlreiche Berichte, Gedichte, Romane, die ehemalige Häftlinge geschrieben haben. Mich interessieren immer wieder Einzelschicksale, deren jedes für tausend andere steht. So wichtig es ist, zusammenfassend, im Überblick darüber zu berichten und aufzurechnen. Ebenso wichtig scheint mir der Einzelfall, das individuelle Schicksal. Ich denke an meinen Freund Fred Wander, der Buchenwald überlebt hat und in mehreren Büchern über seinen Schicksalsweg von Frankreich über Auschwitz nach Buchenwald, in das berüchtigte Außenlager Crawinkel/Jonastal, wo auch Walter Lindenbaum kurz vor Kriegsende ums Leben kam, und wieder zurück nach Buchenwald berichtet. Ich denke an Ernst Federn, an Benedikt Kautsky, an den Salzburger Priester Leonhard Steinwender, an Julius Freund, an Jura Soyfer, Karl Plättner, Walter Reedl. Zwei Texte heben sich aus dem Werk sichtlich heraus. Auch wenn sie nicht autobiographisch sind, gehören sie in die Landschaft Franz Kains, und sie sind ungewöhnliche Bereicherungen des von Becher erträumten einzigen Buches, auf das jede Zeile zugeschrieben wird. Zum einen meine ich die Erzählung „Der Weg zum Ödensee“, die einem Geschichtenband, den der Aufbau Verlag 1973 in der „Edition Neue Texte“ einreihte, den Titel gab. Ich hab diese streng geradlinig erzählte Begebebheit aus der jüngsten Geschichte damals gelesen, zwischendurch noch einmal wie auch jetzt wieder. Vierzig Seiten durchgearbeitete Prosa, die nicht verblaßt ist. Imponierend die Landschaftsschilderung, das scharf ausgeleuchtete Gelände, durch das die Flucht des Kriegsverbrechers Ernst Kaltenbrunner führt, in der Annahme, der terrainkundige Gebirgsjäger sei einer der letzten Getreuen der Nazigröße, die im Begriff ist, aus der großen wie der eigenen auch nicht ganz kleinen Geschichte abzutauchen in einer schwer zugänglichen Berghütte. Mit wem der Soldat im Bunde ist, erfährt der Geführte wie auch der Leser erst zum Schluß. Ansonsten hätte die Spannung nicht durchgehalten werden können. Ja, die Geschichte lebt auch von der Spannung, die jedoch ganz in die Sprachgebung verlegt ist. Kaltenbrunner wähnt sich sicher. Er glaubt, sein Leben bald fortführen zu können. So zu tun, als wäre nichts von Belang gewesen in seiner bisherigen Biographie. Die politische Karriere redet er sich selbst klein. Dies nun macht die Erzählung literarisch so stimmig und welthaltig. Kaltenbrunner wird nicht von außen gesehen. Der Weg zum Bergsee gibt dem Flüchtling Gelegenheit, mit sich selbst zu sprechen, sein Leben mittels inneren Monologs Revue passieren zu lassen. Das Verfahren ist seit Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ bekannt. Das Selbstentlarven ist das Kernstück der psychologischen Studie, mit der sich Franz Kain ganz anders bewährt als in den kürzeren Erzählungen, in denen ich Kalendergeschichten sehe. Das Porträt eines Erzfaschisten, der zu den Hauptkriegsverbrechern gehörte und dessen Leben 1946 in Nürnberg verdientermaßen endete, hat unmittelbar mit der Lebensgeschichte des Kommunisten und Antifaschisten zu tun 46 als eines Gegenspielers und Widerparts, der sich nicht gleichschalten ließ und dies büßen mußte mit Zuchthaus und Militärdienst in der berüchtigten Strafdivision 999. Gerade weil Kaltenbrunner nicht als Bösewicht in Holzschnittmanier gezeigt, ihm ein Innenleben „zugestanden“ wird, gewinnt das personifizierte Verbrechen Gestalt und Kontur. Die größte Leseüberraschung bescherte mir kürzlich der Roman ,,In Grodek kam der Abendstern“, leider ohne Erscheinungsjahr, vermutlich 1995 erschienen. Wieder eine Biographie. Aber ganz anders geschrieben. Eine HerrDiener-Geschichte, der ein immenses Quellenstudium voraufgegangen sein muß. Die Besonderheit und die literarische Qualität sehe ich darin, daß Franz Kain sich in den Offiziersburschen Matthias Roth verwandeln konnte. Der Erzähler spricht für den Sprachlosen. Damit entgeht er jeder Gefahr, tümlich zu werden, sprachlich herunterschrauben zu müssen. Was dem einfachen Mann vom Hallstätter See in den Mund gelegt wird, basiert durchgehend auf dem Können des Erzählers, der sich freigeschrieben hat, und auf seinem schier enzyklopädischen Wissen. Die kargen Aufzeichnungen, die dem Buch im Faksimile beigegeben sind, bezeugen, was Franz Kain aus dem kargen, völlig unmilitärischen Vorwurf, der nur ein skelettartiges biographisches Gerüst zu bieten vermag, gemacht hat und mit welch sicherer Hand er nachzeichnet, unaufgeregt darüberstehend, wissend. Auch wenn Franz Kain von den Lebenswegen des Matthias Roth nicht abweicht, ist ihm eine Kunstfigur gelungen, in der ich einen Nachtrag zur Literatur des Ersten Weltkrieges sehe, aber gleichzeitig auch ein sprachmächtiges Dokument, das die Trakl-Literatur von unten her ergänzt, auch wenn die Wissenschaft dies als Belletristik abtun mag. Alles in allem eine Antikriegsgeschichte sui generis. Der Text besticht durch seine Genauigkeit, wie der einmal angeschlagene Erzählduktus konsequent durchgehalten wird. Spannung entsteht zwischen einer betont gelassenen Satzmelodie und den damit kontrastierenden dramatischen Kriegsereignissen, die Georg Trakl in den Tod trieben. Kain vermag zu berichten, als wäre er dabei gewesen. Er war es wohl wirklich, nachdem ihm der Kunstgriff gelungen war, sich selbst in Trakls „Pfeifendeckel“ zu verwandeln und Roth Kain werden zu lassen. Was Kain Roth in den Mund legt, ist KainSprache in höchster Vollendung: abgeklärt, dicht, kraftvoll. Solch eine Biographie hätte ich mir auch zu Klemens Brosch von ihm gewünscht. Als ich 1979 nach Klagenfurt gelangte, drückte mir der Zufall einen Katalog dieses Malers in die Hand. Zu den Lektüreeindrücken, die mein Kain-Bild bestimmt haben, kommen auch noch zwei Begegnungen. Als ich im November 1979 in einem Linzer Studentenclub las, gaben mir, denkwürdig genug, zwei Schriftsteller die Ehre: Franz Kain und Gertrud Fussenegger. Als hätte es Österreich an diesem Abend darauf abgesehen, mir die ganze Spannweite österreichischer Literatur vorzuführen. Daß Margit und Franz Kain unter den Zuhörern saßen, war nicht zufällig. Meine Lektoratskollegin Helga Thron, die Lektorin Franz Kains im Aufbau Verlag, hatte die Verbindung hergestellt. So nahm mich Kain unter seine Fittiche. Ich war zum erstenmal in Österreich. Und bis zum Untergang der DDR sollte es bei diesem einen Kurzaufenthalt bleiben. Was mir von diesem Abend erinnerlich geblieben ist? Als ich nach Vorbildern gfragt wurde, nannte ich Theodor Kramer. Dieser österreichische Schriftsteller war in der DDR immerhin in Maßen rezipiert worden. Und hätte er nicht gerade zur unrechten Zeit ein Gedicht auf eine Fistel geschrieben, die ihn hinterrücks plagte, wäre ihm möglicherwei