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Lautlos breitet die Ohnmacht ihre Schwingen aus und wie eine große schwarze Fledermaus läßt sie sich nieder. Sie bringt die Kälte. Sie nimmt die Sicht und den Überblick und den Bewegungsradius. Blut braucht sie nicht. Den Atem nimmt sie sich und das Nachdenken. Dann krallt sie sich fest, als Druck in der Brust, als Leere im Kopf. Das Gefühl der Ohnmacht ist keine Grenzerfahrung mehr, das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Machtlosigkeit ist eine Wahrnehmung des Alltags. Gebunden, geknebelt, verhöhnt, im Kreis geschickt, herumgeschoben, hinausgestoßen - eine fremde Hand zieht die Fesseln weiter an oder auch nicht. So sieht es aus auf den ersten Blick. Es sieht aus, als gäbe es kein Entrinnen. Es sieht aus, als wäre eine Perspektive verloren gegangen. Die Zuversicht in Veränderbarkeit fehlt und das Vertrauen auf die Kraft des Zusammenhaltens. Auf den Duden ist Verlaß. Antidepressiva helfen nicht: Ohnmacht, das sei eine vorübergehende Bewußtlosigkeit mit Folgeschäden, wenn das Bewußtsein, und sei es auch nur für kurze Zeit, aussetzt: Lähmungserscheinungen bis zum Totalausfall. Zweiter Vorschlag: Ohnmacht, das ist Schwäche, Machtlosigkeit, die Unmöglichkeit zu handeln. So sieht es aus, auf den ersten Blick. Dem Volksmund ist der kokette Zug abhanden gekommen, eine Resignationsfalte kerbt sich ein. Es ist so wie es ist. Da kannst nichts machen. Die tun doch eh, was sie wollen. Die werden das schon hinbiegen, wie sie’s brauchen. Druck und Bedrängnis schaffen sich Ventil. „Der“ und „das Andere“ geben ein gutes Ziel für die Entladung, der eigene Körper auch. Unter den Fittichen der Ohnmacht springen Menschen vom Balkon, schneiden sich ins Fleisch und spüren sich nicht, die Persönlichkeit spaltet sich oder taucht weg, Zellen teilen sich unkontrolliert, um bösartig zu werden, die Haut schlägt Blasen, der Magen rebelliert, die Stimme versagt. Mit ohnmächtiger Wut Mit welchem Blick fällt dich die Ohnmacht an? Mit dem eines 54jährigen ausgemusterten Bodenlegers, der mit kaputten Knien und Schultern beim vorgegebenen Arbeitstempo nicht mehr mithalten kann, dessen deformierte Gelenke für die Pensionsversicherung aber noch lange kein Grund sind, den Antrag auf Invaliditätsperson zu akzeptieren, schließlich hat er ja noch eine eingeschränkte Arbeitskraft, die er dem Markt zur Verfügung stellen kann. Sein Pech, daß der Arbeitsmarkt nichts Eingeschränktes will und braucht und auch nicht nehmen muß. Mit welchen Händen fährt dir die Ohnmacht an die Gurgel? Mit den allergiegeplagten Händen einer Friseurin? Mit den Händen einer Schülerin mit tätowiertem Hakenkreuz am Unterarm? Mit den manikürten Händen eines bedeutsam gestikulierenden „Sanierers“? Anpacken, anpacken sagt die Geste und seine Stimme, die Hände aber sagen, dieser Mann hat bisher nur anpacken lassen und wird sich seine Bandscheiben ausschließlich beim Sportwagenfahren ruinieren. In welchen Schuhen kommt die Ohnmacht daher, um dir den entscheidenden Tritt zu verpassen? In Schuhen mit abgetretenen Plateausohlen, in Sandalen mit brüchigen Riemchen über Wollsocken? Umfassend ist das Unrecht, namenlos und ausgeblendet das Unglück, das es verursacht. Kaum zu fassen ist die Unverschämtheit, die Unverfrorenheit, die Selbstverständlichkeit, mit der dieses Unrecht begangen wird. Die Koordinaten verschieben sich. Mit allem muß gerechnet werden - beinah mit allem, aber auch für den kleinen Restbestand zivilisatorischer Vernunft gibt es keine Garantie. Welche Farbe, welchen Geschmack, welchen Ton hat die Ohnmacht? Ist sie weiß, bitter und schrill. Oder weinrot, süß und summend? Ist sie farblos? Flimmern, Rauschen, Sendestörung? Oder das Gegenteil? Der Empfang ist klar, aber es gibt keine Knöpfe, um die Lautstärke zu regulieren oder abzuschalten? Die Worte kommen im Raum nicht weiter, finden den Weg zum Gegenüber nicht. Du strengst dich an, klar und deutlich und verständlich zu sprechen und wirkst doch nur wie ein Karpfen im Fischkalter des Biergartens. Niemand nimmt dich wahr, keiner hört dich, du aber willst gehört und verstanden werden und siehst nur, wie bewußt eine zugerichtete, abgetötete Sprache abgesondert wird, ein zäher, konturloser glitschiger Schmodder, der einschleimt und abdichtet gegen Worte und Argumente aus der Gegenwelt. Schreiben Sich einlassen auf die Wut und den Schmerz. Hinschauen, Zuhören, Hinhören. Die Sprachlosigkeit spüren, sich einlassen auf sie. Und dann der Sprachlosigkeit Sprache geben. Das heißt, ihr Raum geben und Form. Der Sprache wieder ihre Konturen geben und den Klang und die Aussage. Den Spielraum ausloten. Die Sprache so zum Schwingen bringen. Schreiben verschafft Erleichterung. Ein Schlußstrich wird gesetzt. Der Aufbruch gewagt. Der Horizont ins Auge gefaßt. Es kommen härtere Tage. Es gibt keine fremden Antworten. Die Ohnmacht schwindet beim Schreiben. Eugenie Kain, geboren 1960 in Linz (Oberösterreich). Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien; Arbeit als Journalistin und im Bereich Training, Beratung und soziale Projekte, Redakteurin bei Radio FRO. 1983 Max von der Grün-Literaturpreis. Publikationen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, ORF und Freien Radios. Bücher: Sehnsucht nach Tamanrasset (Erzählungen, Linz 1999); Atemnot (Roman, Linz 2001); (Hg.) „Man müßte sich die Zeit nehmen, genauer hinzuschauen“. Franz Kain und der Roman „Auf dem Taubenmarkt“ (Linz 2002). 49