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Es ist eine Zeit der Niederlagen. Staaten verlieren ihre Bedeutung, ganze Produktionszweige schrumpfen in wenigen Jahrzehnten zu Nischenproduktionen zusammen, wohlerworbene Rechte werden ausgehöhlt. Die Zukunft bietet viele Herausforderungen, doch wenig Aussichten. Wir scheinen Zeitgenossen einer sogenannten Modernisierungskrise, jedenfalls kommen wir mit unserem bisherigen Repertoire nicht mehr so recht weiter. In einer solchen Situation verbreitet sich das Gefühl der Ohnmacht, ein peinliches Gefühl, doch sollte man gerade darum darüber reden. Über die Ohnmacht schreiben und leben viele hinweg: Nicht über die eigene Ohnmacht, sondern über alle Ohnmacht, eingeschlossen die eigene. Da ist das politisch engagierte Gedicht, vorgetragen in Botschaften besorgter Bürger, bei Widerstandslesungen, das dem Gegner immer schon überlegen ist, geistig, physisch, moralisch. Besiegt liegt er in diesen Gedichten am Boden, zerschundener Marsyas, der den Apoll herausgefordert hat, niedergeworfen vom schlagenden Witz und den unwiderlegbaren Argumenten des Gedichts. Mag er sich draußen irgendwo wieder aufrichten oder gar nicht gefallen sein, hier, im Innenraum des Textes, ist er auf alle Zeiten besiegt, widerlegt, überwunden. Die vielen ,,Widerstandstexte“, die in den letzten Jahren entstanden oder aus der Schublade geholt worden sind, bieten ein naheliegendes Exempel fiir ein Hinwegschreiben tiber die Ohnmacht; ferner liegt uns heute der betont männliche, kraftvolle Stil, wie ihn der von dem österreichischen Vergessensphilosophen Rudolf Burger hochgeschätzte Ernst Jünger pflegte. Verweisen die „Widerstandstexte“ ein wenig verhärmt auf einen Ort der Zuversicht und der Ungebrochenheit im Innenraum des Gedichts, so verweist die Sprache Ernst Jüngers auf den Herrenreiter, der den bockenden Pegasus mit energischem Schenkeldruck zu leiten versteht. Erst wer lügt, hat etwas von der Ohnmacht erfahren Wie auch immer, die Ohnmacht, dieser Gegensatz zur Allmacht, nicht höchste Einheit von Subjekt und Objekt, sondern deren trübe Ungeschiedenheit und somit Abwesenheit, tritt immer schon im Geflecht von Machtphantasien, Haß und Lügen auf. Erst wer lügt, hat etwas von der Ohnmacht erfahren. Wer aber lügt, wird von der Ohnmacht nicht sprechen, will sie nicht offenbaren. Ich denke, die Lüge könnte die unwillkürliche Kartographin des dunklen Kontinents der Ohnmacht sein. Man könnte die Korruption als die leibliche Schwester der Lüge ansehen. Sie ist freilich nur eine Schwester im Gegensatz: Während die Korruption die durch staatliches Zwangsgesetz oder privates Monopol abgesonderten Interessen durch Hintertüren dennoch zusammenbringt, also unter Bedingungen der Entsozialisierung sozialisierend wirkt, zielt die Lüge auf die Bewahrung der voneinander Abgesonderten in ihrem Zustand: Sie, die Abgesonderten, wollen für sich bleiben, nicht in Zusammenhang gebracht werden, nur auf beschränkten 50 Verkehr sich einlassen. Lieber hocken sie, die Abgesonderten, jeder auf seiner eigenen verschämten Ohnmacht. Das Lügenmüssen entsteht ja meines Wissens zunächst daraus, daß man sich zu seiner eigenen Tat und ihrer Wiederholung, seinem Tun, nicht bekennen kann. Erschrocken wird man sich dessen inne. Später sieht man die Situationen schon voraus, in denen man lügen wird müssen, aber im ersten Schrecken, nun lügen zu müssen, dämmert das Bewußtsein der Ohnmacht auf. Weil mir die Macht fehlt, mich zu meiner Tat bekennen zu können, muß ich lügen und mit der Lüge den Zusammenhang mit mir selbst und den anderen preisgeben. Die Lüge tritt den Rückzug in die Absonderung an, während die erträumte Macht Zusammenhalt einfordern könnte, auch dort, wo man sich vielleicht ins Unrecht gesetzt hat. Selbstgefälliges Dahinleben in der Absonderung Vermutlich ist die Lüge der verläßlichste Bote der Ohnmacht, die Spur, die zu ihr führt, aber ich muß zugeben, daß ich dieser Spur kaum noch gefolgt bin. Der Grund dazu scheint der: Was mich, seit ich denken kann, aufgeregt, erzürnt, zur Verzweiflung gebracht hat, war das selbstgefällige Dahinleben der anderen Menschen in der Absonderung, geschützt von der Lüge und geduckt unter die Verhältnisse (eine Lage, in der Humor gleichermaßen nötig wie möglich erscheint); ich wünschte mir Überwindung der Absonderung, Vereinigung, Gemeinschaft. So ging es mir nicht darum, Zustände der Ohnmacht zu beschreiben oder Zugang zu den Ohnmächtigen zu finden, sondern vielmehr darum, den Zustand der gegenseitigen stummen Absonderung zu bekämpfen. Es ging mir um die reale Überwindung der Absonderung und der damit verbundenen Unterwerfung in der ‚Echtzeit? meines Lebens; meine Hauptsorge galt dem Eintreten für die Wahrheit gegen die Lüge, ich verschloß den Wahrheiten, die mir die Lüge wisperte, das Ohr. „Die Wahrheit ist unbesiegbar“ ist ein seltsamer Satz, wenn er mehr sein soll als die Banalität, daß die Wahrheit das ist, was am Ende herauskommt, deshalb herauskommen muß, weil es eben die Wahrheit ist. Dennoch, bis heute, berührt mich dieser Satz ganz eigen, mag sein wegen seines drohenden Untertons, der sich einmal gegen mich selber und ein andermal gegen die Widersacher wendet. Die „Wahrheit“ ist gewissermaßen mein „Widerstandsgedicht‘, der Innenraum, in dem ich gewöhnlich als Sieger vor mir selber stehe. Geballte Kraft, die sich dem Unrecht widersetzt Das Pathos, für die Wahrheit und gegen die Lüge einzutreten, scheint also — zumindest zum Teil — erfüllt von Machtphantasien, die ihre Nährzone ebenso in der Ohnmacht haben wie die bekämpfte und verachtete Lüge. Manchmal kommt mir vor, daß meine Vorstellung der Wahrheit, einer Wahrheit, die von Kraft und Zuversicht strotzt und bei Bedarf auch kolossales Ausmaß annimmt, in meinen frühen Wunschträumen einen