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ner Zeit, da die Universität Wien den Frauen noch versperrt war. Helene von Druskowitz’ Mutter ging mit der offensichtlich begabten Tochter nach Zürich, wo Helene von Druskowitz als zweite Frau zum Dr.phil. promovierte. Sie verweigerte alle typischen weiblichen Lebenswege wie Ehe, Erzieherin, Klavierlehrerin, und bestand darauf, gleich ihren männlichen Studienkollegen als Wissenschaftlerin zu leben. Daß sie dafür von der Gesellschaft nicht eben geachtet wurde, geht aus erhaltenen Briefen hervor. Mit fünfunddreißig Jahren hatte sie mindestens elf Bücher veröffentlicht und erfuhr den entscheidendsten Einschnitt ihres Lebens. Nachdem sie betrunken in ihrem Untermietszimmer randaliert hatte, wurde sie in die Irrenanstalt eingeliefert, die sie, obwohl die Orte wechselten, bis zu ihrem Tod am 31. Mai 1918 in Mauer-Öhling nicht mehr verlassen sollte. Aus dem Versuch eines selbstbestimmten Lebens wurde ein 27 Jahre dauernder Alptraum. Ihre Ohnmachtsgefühle in dieser Situation kann ich nur erahnen. Aus ihren Aktivitäten geht aber auch hervor, daß sie sich ihnen nicht überließ, sondern mit dem System spielte: — sie erkämpfte sich ein Einzelzimmer — wies Geschenke zurück (Ebner von Eschenbach) — erkämpfte sich Ausgang — kämpfte immer wieder für ihre Entlassung — erträumte sich ihre Zukunft in Freiheit Entscheidender als diese Spiele war aber, daß sie sich ihre Kreativität jahrelang nicht zerstören ließ, denn zumindest bis 1905, als ihr Buch „Der Mann als logische und sittliche Unmöglichkeit und als Fluch der Welt. Pessimistische Kardinalsätze‘ erschien, hat sie geschrieben und publiziert. Ihre Philosophie jedoch hat sich entscheidend verändert. War sie in ihren früheren Werken von der Möglichkeit ausgegangen, daß die Menschheit sich positiv entwickle, sie sogar Vollkommenheit und Seligkeit erlangen würde, ist von dieser Einstellung in ihrem letzten Werk nichts mehr zu finden. Geblieben sind hingegen ihr Selbstbewußtsein und ihre Achtung von Frauen. Elisabeth Reichart, geboren 1953 in Steyregg (Oberösterreich), studierte Geschichte und Germanistik in Salzburg und Wien, wo sie als freie Schriftstellerin (seit 1982) lebt. Herausgeberin u.a. der Anthologie „Österreichische Dichterinnen“ (1993). Zahlreiche Auszeichnungen für ihr literarisches Werk. Veröffentlichte u.a.: Februarschatten (Roman, Wien 1984); Komm über den See (Erzählung, Frankfurt/M. 1988); Fotze (Erzählung, Salzburg 1993); Nachtmär (Roman, Salzburg 1995); Das vergessene Lächeln der Amaterasu (Roman, Berlin 1998). Beginnt Literatur wirklich erst mit der Empörung gegen die Ohnmacht, wie es Franz Kain geschrieben hat? Gefühlsmäßig tendiere ich dazu, diese Frage zu bejahen. Viele andere Autorinnen und Autoren würden zweifellos ähnliches wie Kain behaupten, auch wenn Empörung eigentlich schon die Überwindung von Ohnmacht bedeutet, während viele das Gefühl der Ohnmacht auskosten, ohne sich zu empören. An der Quelle der Ohnmacht stehen, laut Kain, Haß und Kränkung, hilflose Vereinsamung, vertane Möglichkeit, versäumte Tat und brutale Bedrängnis — das alles sind wichtige Themen der Weltliteratur, und jedes literarische Werk hat (mehr oder weniger verschlüsselt) einen autobiographischen Kern. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß manche Autorinnen und Autoren ihre Texte aus einem Gefühl souveräner Allmacht produzieren. Ihre Empörung wendet sich gegen jene, die diese Allmacht nicht anerkennen wollen. Ihre Kränkung ist narzißtisch, die Vereinsamung selbstgewählt, die Bedrängnis eingebildet. Es gibt schließlich die Ohnmacht des von sich selbst Überzeugten, dem es nicht gelingt, der Welt seinen Stempel aufzudrücken. Andere Autorinnen und Autoren überwinden durch ihre literarischen Erzeugnisse die Ohnmacht und Wut darüber, daß sie keine Wut auf die Welt und nur wenig zu sagen haben. Sie werden sich über das Unrecht nicht erregen, weil sie das Unrecht in der Welt nur zu einem geringen Teil zu sehen vermögen und das, was sie sehen, bei ihnen ohnehin kein Interesse weckt. Wieder andere empören sich über sprachliche Regeln... Und dann gibt es viele, für die weder Empörung noch Ohnmacht ein 52 Thema ist, weder was ihren persönlichen Erfahrungshintergrund noch was ihre Texte betrifft... All diese von mir bewußt karikaturhaft skizzierten Typen literarischer Produzenten — und zwar ausnahmslos alle! — können gute Texte schreiben: die dem Unrecht und der Ohnmacht Widerstand leisten und jene, die sich ihnen wehleidig hingeben, die hilflos Vereinsamten und gesellig Zufriedenen, die apolitischen Egomanen, Sprachjongleure und kindlichen Erschaffer ferner Welten. Was immer man auch sagen mag: das faszinierende an Literatur (ja an Kunst überhaupt) ist die Tatsache, daß man über sie alles sagen kann und dann das Gegenteil davon behaupten, daß beides stimmen wird und Postulate nur für jene gelten, die sie aufstellen und die ihnen glauben wollen. Deshalb ist Franz Kains Behauptung Ein einziger Baum zählt mehr, als Wüste an Wüste zu reihen meiner Ansicht nach nicht mehr als nur ein schöner poetischer Satz. Selbstverständlich kann man Wüste an Wüste reihen! Es kommt nur darauf an, wie man es tut (also welche Form man dafür wählt), und ob es Eremiten gibt, die einem gern in diese Wüsten folgen wollen... Deshalb möchte ich ab sofort nicht mehr von „Ohnmacht in der Literatur“ sprechen — etwas Derartiges gibt es genauso wenig wie DIE Literatur. Statt dessen möchte ich von der Ohnmacht in meiner Literatur sprechen, besser gesagt vom persönlichen Erlebnis von Ohnmacht, das meinem Schreiben als Voraussetzung diente. Dieser Ohnmacht waren Gefühle der Angst und des Fremdseins vorausgegangen, die ich als Kind und als Jugendlicher