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während der Emigration erleben mußte. Als ich fünf Jahre alt war, wanderten meine Eltern aus der Sowjetunion aus und ließen sich nach einer mehr als zehn Jahre dauernden Odyssee, deren Stationen unter anderem Israel, Österreich, die Niederlande und die USA gewesen waren, schließlich endgültig in Wien nieder. Der Aufenthalt in den USA endete mit dem traumatischen Erlebnis von Schubhaft und Abschiebung. Zur Ohnmacht führten meine Angst und meine Wut über erlittene Verletzungen, über Diskriminierungen und über Vorurteile, mit denen ich konfrontiert war, allerdings erst in den Jahren nach der Emigration, als mir immer mehr bewußt wurde, daß ich zwar gelernt hatte, vernünftig zu sein, aber nicht mit meinen Gefühlen umzugehen, daß ich gelernt hatte korrekte deutsche Sätze aneinander zu reihen, aber nicht mich mitzuteilen, daß ich mir Freunde in der Phantasie erschuf, aber Gleichaltrigen aus dem Weg ging. Ich empörte mich über eine Welt, in der zum Beispiel Menschen wie meine Eltern, die als Juden in der Sowjetunion Diskriminierungen ausgesetzt worden waren, emigrieren mußten und kein Land finden konnten, in dem sie sich zu Hause fühlten, so wie ich mich auch heute empöre über jene, die Menschen vertreiben oder die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert und alle Asylanten pauschal zu Verbrechern erklären. Doch meiner Empörung vermochte ich lange Zeit keinen Ausdruck zu verleihen. Was ich zu sagen hatte, glaubte ich, würde ohnehin niemand hören wollen... Meinen ersten längeren literarischen Text, die autobiographisch gefärbte Erzählung „Abschiebung“, der meine Erlebnisse in den USA als Grundlage dienten, schrieb ich 1994, mehr als zwölf Jahre nach meiner Rückkehr aus Amerika. In diesen Jahren hatte ich die lähmende Ohnmacht hinter mir gelassen. Empörung, Resignation und Wut waren durch Wehmut, Hoffnung und Selbstironie gemildert. Anderenfalls wäre die „Abschiebung“ keine Erzählung mit literarischem Anspruch, sondern ein Verzweiflungsschrei oder eine Schimpftirade (höchstens zur Selbsttherapie geeignet) geworden. Vorhin hatte ich davon gesprochen, daß allgemeine Aussagen über Literatur notwendigerweise subjektiv und widerlegbar seien. Ich möchte an dieser Stelle trotzdem einige allgemeine Überlegungen anzustellen, die ich natürlich nicht als sogenannte Wahrheit, sondern als Diskussionsgrundlage sehen möchte: „Empörung gegen die Ohnmacht“ steht für mich nicht am Beginn von Literatur, sondern kennzeichnet einen vorliterarischen Zustand. Literatur erfordert erst die Überwindung von Empörung und Wut und des darin enthaltenen selbstzerstörerischen Potentials, um es in literarisches Potential zu verwandeln. Dies setzt jedoch Distanz und emotionelle Selbstdisziplin voraus. Würde ich zum Beispiel schreiben, was ich über den FPÖ-Clubobmann Westenthaler und seine Äußerungen zum Thema Asylpolitik und Zuwanderung wirklich denke, und was ich diesem Herrn alles wünsche, wäre das wohl kein Thema für die Literatur, sondern für die Justiz. Wollte ich solche und ähnliche Menschen und ihre Taten tatsächlich anprangern und bloßstellen, müßte ich meiner Aufgabe als Schriftsteller nachkommen und aus ihnen literarische Figuren machen. Um aber die Abgründigkeiten und verschlungenen Irrwege in den Seelen jener, die uns in Ohnmachtszustände treiben, wirklich ergründen zu können, müssen wir erst so weit sein, um über diese Menschen lachen zu können. Erst dann werden wir sie in ihrer ganzen Monströsität erfassen. Aus Ohnmacht aber entsteht ohnmächtige Literatur, aus Empörung Tendenzliteratur, aus Haß Worte wie Arsen. Effektiver Widerstand kann, wie mir scheint, erst dann beginnen, wenn wir Ohnmacht und Empörung kennengelernt, sie aber hinter uns gelassen haben. Erlauben Sie mir, zum Abschluß noch eine kurze Geschichte zu erzählen. Vor einigen Monaten wurde ich zu einer Veranstaltung in die dritte Klasse eines Wiener Gymnasiums eingeladen. Es standen mir drei Schulstunden zur Verfügung. In der ersten Stunde las ich einen Ausschnitt aus meinem Roman „Zwischenstationen“, in dem es unter anderem um die Erfahrungen eines Immigrantenkindes in Wien geht, um Fremdenfeindlichkeit und Angst. Die Klasse hörte aufmerksam zu. Während der Pause fiel mir am Gang vor dem Klassenzimmer eine seltsame Unruhe unter den Schülerinnen und Schülern auf. Ein Mädchen weinte, während seine Klassenkameradinnen es zu beruhigen versuchten. Das Mädchen war eine Bosnierin. Sie war als Kleinkind mit ihren Eltern als Kriegsflüchtling nach Österreich gekommen. Vieles von dem, was ich vorgelesen hatte, erinnerte sie daran, was sie als Fremde in Wien selbst erleben mußte. Als die zweite Stunde begann, versuchten auch die Lehrer und ich, beruhigende Worte zu finden. Ich erzählte von meinen persönlichen Erfahrungen während der Emigration und wie es mir gelungen war, unangenehme Erlebnisse zu verarbeiten. In der dritten Stunde berichteten die Schülerinnen und Schüler ob und in welcher Form sie in Wien Fremdenfeindlichkeit erlebt hatten, bzw. beobachten konnten. Die für mich erschreckendste Geschichte stammte von dem schon erwähnten bosnischen Mädchen. Vor einiger Zeit, erzählte die Schülerin, sei sie mit ihrem zweijährigen Bruder mit der Straßenbahn unterwegs gewesen und habe mit ihm Serbokroatisch gesprochen. An einer Haltestelle seien ein paar Jugendliche eingestiegen, haben das Mädchen beschimpft und dem kleinen Bruder ins Gesicht gespuckt... So entsetzlich dieses Erlebnis für die kaum Dreizehnjährige gewesen ist, war ich dennoch froh, daß sie darüber offen vor der ganzen Klasse sprechen konnte — etwas, das für mich in ihrem Alter undenkbar gewesen wäre. Sie war dabei, ihre Ohnmacht zu überwinden, und wenn meine Texte diesen Prozeß verstärkt oder beschleunigt haben, dann habe ich mit meiner Literatur schon sehr viel erreicht. In diesem Zusammenhang stimmt Franz Kains schöner poetischer Satz dann doch wieder: Ein einziger Baum zählt mehr, als Wüste an Wüste zu reihen. Vladimir Vertlib, geb. 1966 in Leningrad; Eltern Mitglieder einer illegalen zionistischen Organisation. 1971 Ausreise nach Israel. Ab 1972 in Wien. 1975 nach Amsterdam, dann wieder Israel. 1976-80 wieder in Wien, dann 1980/81 in New York und Boston. Erste Schreibversuche, vorerst auf Russisch. Aus den USA abgeschoben, neuerliche Rückkehr nach Wien. 1984-89 Volkswirtschaftsstudium in Wien. Seit 1986 österreichischer Staatsbürger. Lebt seit 1993 als freischaffender Schriftsteller in Salzburg. Redakteur der Zeitschrift „Zwischenwelt“. Essays, Erzählungen, Kritiken u.a. in: WochenZeitung (Zürich); Die Presse (Wien); Literatur und Kritik (Salzburg). 1999 österreichischer Förderungspreis für Literatur, 2000 Adelbert von Chamisso-Preis, 2002 Anton Wildgans-Preis. — Bücher: Abschiebung (Erzählung, Salzburg 1995); Zwischenstationen (Roman, Wien 1999); Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur (Roman, Wien 2001). 53