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Gesellschaften mit scheinbaren Sicherheitsmaßnahmen gegenüber dem Anderen, dem Fremden abriegeln. Ohnmacht ist das letzte, was man erfahren will. Doch zurück zum eingebildeten Leiden, zur Ohnmacht als Illusion. Ich erwähne zwei Beispiele aus Texten, die ich geschrieben habe. In meinem Theaterstück „Olympe oder Die letzten Worte“ finden zwei Frauen in der Jetztzeit, eine Ärztin, Dorothea, und eine Schauspielerin, Olympe, in historischen Frauengestalten einen Spiegel: Dorothea Erxleben, die erste promovierte Ärztin in Deutschland, war als eine Frau, die Medizin studieren wollte, real benachteiligt und behindert, einer Masse von Vorurteilen ausgesetzt. Olympe de Gouges, französische Revolutionärin und Frauenrechtlerin, wurde für ihre Leistungen unter der Guillotine ermordet und als Schriftstellerin, die sie auch war, in die Vergessenheit geschoben. Beide Frauen hatten, neben dem sozialen und politischen Unrecht, das sie in ihrer Zeit (der Zeit der Aufklärung) an Leib und Seele erfahren haben, übermächtige Väter, ihr Vaterkomplex steht in meinem Stück bei all ihren Handlungen Pate. Die Frauen der Jetztzeit sind nicht realer Ungerechtigkeit ausgesetzt, den übermächtigen Vater haben aber auch sie nicht hinter sich gelassen. Sie bleiben in ihrem Komplex verstrickt, werden nicht erwachsen und sind darum nicht frei für selbstverantwortliches Handeln, sie sind auch nicht frei für angemessenes soziales und politisches Handeln (sie bleiben in meinem Stück in Frauenkonkurrenz und weiblichen Machtspielen stecken). In diesem Stück stehen Ohnmacht und Ohnmacht einander gegenüber. Weil sie von den Protagonistinnen nicht unterschieden werden können, weil sie vielmehr Teil einer einzigen Dynamik sind, wird auch die Ohnmacht als psychologisches Moment nicht überwunden. Was meine Autorenmeinung ist und was die Zuschauer herauslesen können, wenn sie es wollen, ist: Der übermächtige Vater ist für die erwachsene Frau bloß ein inneres Bild, eine Illusion, und es wäre an der Zeit, diese Einbildung, diesen Unsinn hinter sich zu lassen und sich dem zuzuwenden, was ist. Ich kann nicht über wirkliche (soziale und politische) Ohnmacht schreiben, weil sie nicht zu meiner Erfahrung gehört. Ich kann über die Notwendigkeit schreiben, Einbildungen und Wahnvorstellungen fallen zu lassen. Darüber weiß ich Bescheid, denn ich selbst bin nicht frei von ebensolchen Einbildungen, ja Wahnvorstellungen. Ich kann auch darüber schreiben, daß Ohnmacht, Ohnmachtsgefühl gerne weggeredet und wegagiert wird, daß mir aber im Aushalten von Ohnmacht (als psychologisches Moment, wohlgemerkt) der Schlüssel zur Veränderung und Überwindung zu liegen scheint. „Sie möchte den Bösen einladen, ihm auftischen. Ihm geradewegs ins Gesicht schauen, ihm offen begegnen. Ihn ertragen. Sich anfreunden, sich’s mit ihm bequem machen. Ihn allmählich unschädlich machen durch Freundschaft.“ — habe ich einmal geschrieben. Ich habe beim Schreiben eine Sympathie für Charaktere, die im Äußeren zwar machtlos, eben ohnmächtig sind, die aber durch Geradlinigkeit und eine ausgeprägte innere Stärke gesellschaftliche Machtstrukturen wenn nicht überwinden, so jedenfalls hinter sich lassen. Phillis Wheatley, die erste afroamerikanische Poetin, der es möglich war, ein Buch zu veröffentlichen, ist so eine Figur, sie ist die Protagonistin meines Hörspieles „Die Sonne“. Als ein Sklavenmädchen, das im aufgeklärten Haus der Wheatleys nicht arbeiten mußte, sondern lernen durfte, schrieb sie Gedichte, in welchem sie die Befreiung der schwarzen Rasse besang (wir sind in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Amerika). In meinem Stück wird sie einer Prüfung durch den Reverend und den Gouverneur in Boston in Anwesenheit der respektabelsten Bürger der Stadt unterzogen. Es geht um die Prüfung der Verfasserschaft eines zu veröffentlichenden Gedichtbandes. Der Reverend hätte das Mädchen durchfallen lassen, weil er nicht sieht, was er nicht glaubt, der Gouverneur aber läßt sich überzeugen, weil er nur glaubt, was er sieht. Phillis Wheatley, und das ist ihre Leistung, gelingt es, aus ihrer Ohnmacht heraus und mit den Mitteln der Ehrlichkeit, gepaart mit Kompetenz, den mächtigsten Mann in Boston zu überzeugen, sie erhält ein Attest, das ihre Verfasserschaft bestätigt. Die Geschichte, auch die Tatsache einer öffentlichen Prüfung, ist historisch belegt: Mit Hilfe dieses Attestes konnte sie später in England einen Verlag finden. Ein kleiner Sieg, der nicht darüber hinwegschminken soll, daß Phillis Wheatley später, noch jung und in großem Elend, von jedem Erfolg verlassen, starb. Die Figuren in meinem Hörspiel wurden nach meiner Intention gestaltet und gefärbt. Die Geschichte ist aber, wie ich sagte, in den wesentlichen Zügen historisch überliefert. Dazu eine Anekdote, und damit finde ich auch den Abschluß: Ich erinnere mich an die Uraufführung des Hörspieles im ORF Tirol hier in Innsbruck. Nach der Veranstaltung kam ein Bekannter zu mir, ein Musiker und Poet, der heute leider nicht mehr lebt. Kopfschüttelnd sagte er zu mir, der Ausgang der Geschichte sei zu positiv. Er könne nicht glauben, daß ein Sklavenmädchen so gut behandelt worden sei. Ich erwiderte, daß es in diesem Fall nicht um Glauben gehe, da es sich um eine authentische Geschichte handelte. Er wiederholte, er könne trotzdem nicht daran glauben. Genau an dieser Stelle, genau hier beginnt Ohnmacht als Illusion, wie ich sie verstehe, wie sie mich beim Schreiben interessiert. Erika Wimmer, geb. 1957 in Bozen; 1976-83 Studium der Germanistik, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Anglistik an der Universität Innsbruck. 1979-87 Redaktionsmitglied der Zeitschriften „Föhn“ und „Erziehung heute“. 1981-83 Mitarbeit am Projekt „Tiroler Printmedien“, im Rahmen einer Studie zum politischen und sozialen System Tirols, im Auftrag der Michael-Gaismair-Gesellschaft; seit 1983 Mitarbeiterin des Forschungsinstituts „Brenner-Archiv“ in Innsbruck; Arbeit und diverse Publikationen im literaturwissenschaftlichen Bereich sowie Öffentlichkeitsarbeit für das „Brenner-Archiv“ (u.a. Organisation von Literaturausstellungen). 1994-95 Mitarbeiterin der „Tiroler Kulturinitiative“; 1995 Dorfschreiberin der ,, Villgrater Kulturwiese“; seit 1997 Leiterin des Literaturhauses am Inn. Biicher: Feder, Stein (Erzählungen, Innsbruck, 1996); Manchmal das Paradies (Gedichte, Wien 2000); Olympe oder Die letzten Worte (Theaterstück, 1998); Im Winter taut das Herz (Roman, Wien 2002). Hörspiele: Leider oder Eine ganz normale Katastrophe (1995); Täuschungen (1997); Die Sonne (1999). - Mehrere Stipendien und Preise, zuletzt das Große Literaturstipendium des Landes Tirol. 55