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„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“ Jakob van Hoddis „Weltende“, ein „Gedicht von acht Zeilen, das am 11.1. 1911 in der Wochenzeitung „Der Demokrat“ veröffentlicht wurde, machte seinen Verfasser, den 1837 in Berlin geborenen Hans Davidsohn, der aus seinem Namen das Anagramm Jakob van Hoddis bildete, bei der jungen expressionistischen Generation auf einen Schlag berühmt. Die lakonische, unterkühlte Sprache und die gewollte Unangemessenheit der Metaphern fanden rasch Nachahmer; der Publizist Kurt Hiller, der viele dieser von Berlin faszinierten Autoren entdeckte und förderte und als „Ziel der Gedichtschreibung“ die „ehrliche Formung der tausend kleinen und großen Herrlichkeiten und Schmerzlichkeiten im Erleben des intellektuellen Städters“ proklamierte, schrieb 1913, van Hoddis sei seiner Forderung am nächsten gekommen. Im nachhinein wurde das kleine Gedicht, in dem, so Peter Rühmkorf treffend, das Unheil ja „weniger vorausgesehen als exekutiert wird“, zwangsläufig als Vorahnung und Fanal des Kommenden interpretiert — ebenso wie die apokalyptischen Bilder von Ludwig Meidner, der mit van Hoddis befreundet war. Welchen Eindruck es auf Zeitgenossen wie Nachgeborene machte, ist — von Johannes R. Becher bis Robert Gernhardt - vielfältig bezeugt. Soweit der literarische Aspekt, dessen einzelne Stationen in dem ausführlichen, großformatigen Begleitbuch zur Ausstellung im Berliner „Centrum Judaicum“ souverän, mit klug gewählten Zitaten und hervorragenden Illustrationen, aufgeführt werden: Vortragsabende im „Neuen Club“, „Neopathetisches Cabaret“, Konkurrenz zu Georg Heym, Berliner und Münchener Boh&me - es entsteht ein durchaus fesselndes und facettenreiches Zeitpanorama auf dem Hintergrund der — damaligen — Weltstadt Berlin. Doch es geht um mehr. Denn dargestellt wird, eingebettet in eine fast repräsentativ zu nennende Familiengeschichte, deren einzelne Verästelungen nachgezeichnet werden, auch die persönliche Biographie des Autors Hans Davidsohn, der, so die Mutter Doris Davidsohn in ihrem unveröffentlichten autobiographischen Manuskript, aus „einer der guten jüdischen Familien“ stammt. Lebens-, Familien- und Zeitgeschichte, die vielfach und untrennbar miteinander verknüpft sind, werden also in ihrem Zusammenhang gezeigt und vermitteln so ein ungewöhnlich dichtes, detailgesättigtes und aufschlussreiches Bild; und die auf die Krankenakte gestützte Darstellung des Krankheitsverlaufs gibt zusätzlich Einblicke in die Psychiatriegeschichte. Hans Davidsohn wird im Oktober 1912 zwangsweise in eine psychiatrische Klinik verbracht, aus der er jedoch wieder flieht. 1914/15 folgt ein weiterer Klinikaufenthalt, an den sich verschiedene Privatpflegestellen anschließen. 1927 wird er in Tübingen erneut eingewiesen (die Diagnose lautet „schizophrener Endzustand“) und im September 1933 in die Israelitischen Heilanstalten Bendorf-Sayn verlegt. Von dort wird er am 30. September 1942 gemeinsam mit 100 Patienten und Mitarbeitern der Anstalt in den Distrikt Lublin verschleppt und zwischen Anfang Mai und dem 6. Juni, vermutlich im Vernichtungslager Sobibor, ermordet. „Meine Mutter“, so Doris Davidsohn 1919, „erzählte gerne von ihrem verstorbenen Vater, den sie über alles geliebt hatte; er war ein vornehm empfindender Mann mit altjüdischer Kultur und Bildung und von großer Frömmigkeit ... Sein Vater war ein angesehener Kaufmann und Gelehrter in Lublin.“ Theo Meier-Ewert Alle meine Pfade rangen mit der Nacht. Jakob van Hoddis, Hans Davidsohn (1887 — 1942). Hg. von Irene Stratenwerth und der Stiftung ,,Neue Synagoge Berlin — Centrum Judaicum“. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld 2001. 256 S., zahlreiche Abb. Ausgemerzt Der Raub von Kunstwerken aus jüdischem Besitz in Deutschland und den besetzten Gebieten durch die NS-Machthaber ist auf Grund von Beutekunstdebatten oder den bekannt gewordenen Restitutionsansprüchen einzelner Nachfahren im öffentlichen Bewußtsein einigermaßen präsent, wenn auch die Kölner Tagung „Museen im Zwielicht — Ankaufspolitik 1933-1945“ im Dezember 2001 deutlich werden ließ, daß das ganze Ausmaß dieses Kunstraubes noch immer nicht gesichtet ist. Zwar hat die bahnbrechende Washingtoner Konferenz vom Dezember 1998 über Vermögensverluste infolge des Holocaust die Raubkunst-Diskussion neu entfacht, und seit der anschließenden Erklärung der Bundesregierung vom 14. Dezember 1999 sind die deutschen Museen aufgefordert, „zur Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes insbesondere aus jüdischem Besitz“ die Provenienzen ihrer Bestände zu prüfen; problematische Fälle seien der neu gegründeten Koordinationsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg zu übergeben. Gleichwohl steht diese Provenienzrecherche noch ganz am Anfang; der Grund sind nicht nur die fehlenden finanziellen Mittel der Museen, sondern auch die hinhaltende bis abblockende Haltung der Museumsleute selbst (dokumentiert auch in ihrer zahlenmäßig geringen Präsenz bei der Kölner Tagung). Die Suche nach entzogenem Kulturgut betrifft allerdings nicht nur das Gebiet der Bildenden Kunst, denn die Plünderungsaktionen der NS-Machthaber waren von Anfang an auch ein „Raub der Musik“, also die Beschlagnahmung des Eigentums jüdischer Musiker und Komponisten, Musikverleger, Schallplattenfirmen, Bibliotheken, Musikgeschäfte etc. Er geschah ebenso systematisch wie der Kunstraub, von den damit beauftragten Musikwissenschaftlern zum Teil als Forschungsarbeit getarnt. Der Verbleib dieses geraubten Kulturgutes ist noch ungeklärter und schwerer zu verfolgen als der des in den Netzen von Kunsthandel und Museen umgeschichteten Gutes. Mit der Veröffentlichung „Sonderstab Musik — Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940 — 1945“ hat der niederländischen Autor Willem de Vries das Ausmaß dieser Raubzüge nachgezeichnet; der Kölner Dittrich Verlag brachte es 1998 in deutscher Übersetzung heraus und legte im folgenden Jahr mit „Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen“ der Musikwissenschaftlerin Eva Weissweiler ein weiteres Werk zur Aufarbeitung der NSMusikpolitik und NS-Musikwissenschaft vor. Daß die deutsche Musikwissenschaft nach 1945 politisch mehr als zurückhaltend war und ihre antisemitische Vergangenheit nicht aufarbeiten wollte, ist vielfältig zu belegen. Verräterisch die distinguierte Eintragung in Riemanns Musiklexikon von 1961 über die Pianistin und Cembalistin Wanda Landowska: „In St-Leu-la-Fort richtete sie eine Ecole de Musique Ancienne ein, die sie 1940 samt ihrer Sammlung alter Instrumente, vor den einmarschierenden deutschen Truppen flüchtend, aufgab. Ab 1940 war sie in den USA ...‘“ Wahr ist, daß der Leiter des Sonderstabes Musik im Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, der Musikwissenschaftler Dr. Herbert Gerigk, spätestens seit dem Eintrag des von ihm herausgegebenen „Lexikons der Juden in der Musik“ von Landowskas wertvoller Sammlung wußte. Nach Landowskas Flucht in den unbesetzten Teil Frankreich rückte Gerigk am 20. Sept., drei Tage nach dem Führerbefehl, mit seinem Stab und 15 Arbeitern einer französischen Transportfirma zur Plünderung an - in 14tägiger Arbeit wurde eine Musikbibliothek von 10.000 seltenen und wertvollen Bänden, eine Sammlung historischer Instrumente, darunter Cembali aus dem 17. Jhd. und ein Klavier von Chopin, inventarisiert, zerlegt und in 54 Kisten für den Transport verpackt. (Fotos der Cembali auf dem Rasen in Landowskas Garten belegen die Ausräumarbeiten dieser Herren- und Räubergesellschaft). Die Kisten gingen im Oktober 1940 nach Berlin in die Oranienburgerstraße, von da folgte eine Odyssee über Leipzig — Oberschlesien — Bayern. Die Bibliothek wurde von der Russischen Armee beschlagnahmt, die Spur der Instrumente verliert sich. Grundlage für diesen Raubzug Gerigks war die Maxime, daß es sich hier um „herrenloses Gut der jüdischen polnischen Staatsangehöri61