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nach der Auflösung des Theresienstädter Famlienlagers überlebten und ins KZ Schwarzheide — ein Nebenlager von Sachsenhausen — gebracht wurden. Laut Pavel Stränsky zeichnet Kraus ein absolut authentisches Bild dieses Lagers und seiner „Bewohner“ (Interview mit Pavel Stränsky vom 27.12. 2002). Er selbst findet sich auch in Teilen einer Person des Romans widergespiegelt, allerdings hat Kraus — wie er auch in seinem Vorwort anmerkt — mit Ausnahme von Fredy Hirsch, Mengele und den SS-Wachen Charaktere und Eigenschaften mehrerer Personen zusammengefaßt, sodaß eine eindeutige Zuordenbarkeit nicht möglich ist. Der Titel des Romans bezieht sich auf eine Wand des Kinderblocks, den eine der Hauptfiguren des Romans, Lisa Vergißmeinnicht, bemalen darf. So sehen viele der Kinder zum ersten und letzten Mal in ihrem kurzen Leben Tiere, Pflanzen und bekannte Figuren aus Märchen, die sie bis dahin nur aus Erzählungen kannten. Diese Bemalung der Wand fand wirklich statt. Sie wurde von einer der späteren Trickfilmzeichnerinnen Walt Disneys, Dina Gottliebovä, angefertigt. Gottlieboväs künstlerisches Talent fiel Mengele auf, und sie mußte für ihn im „Zigeunerlager“ Porträts von Gesichtern markanter Roma anfertigen. Auch diese Entsprechung gibt es im Roman. Eine große Rolle in Kraus’ Roman spielt die Widerstandsbewegung und die Funktion, die dabei Fredy Hirsch einnahm. Dieser war eine charismatische Persönlichkeit; sein hoher Wuchs und sein soldatisches Auftreten beeindruckte die SS. Deshalb „sah ihn die SS fast schon als Mensch an“ (Interview mit P. Stränsky vom 2.11. 2002). Ein geplanter Aufstand im Theresienstädter Familienlager fand jedoch nicht statt. Hirsch starb an einer Medikamentenvergiftung, vermutlich beging er Selbstmord, knapp bevor der Septembertransport — also nach sechs Monaten Aufenthalt in Auschwitz-Birkenau — in der Nacht vom 8. zum 9. Marz 1944 von der SS ins Gas geschickt wurde. 3.800 Menschen wurden ermordet. Besonders beriihrend, aber heute — und wohl auch schon damals — nicht nachzuvollziehen, ist die Arbeit der Erzieher und Lehrer (Unterricht war natiirlich verboten, fand aber statt) in den Kinderblocks. Stränsky, der zum Leiter des zweiten Kinderblocks ernannt wurde, in dem sich Kleinkinder im Alter von drei bis sechs Jahren befanden, gibt seinem Nachwort zu Kraus’ Roman deshalb auch den Titel „Ein Versuch, Unmitteilbares mitzuteilen“. Darin meint er, daß Kraus „mindestens zu einer Randeinsicht in eine unbegreifliche und damit unmitteilbare Welt“ beiträgt. Von den Kindern, die Stränsky betreut hat, mit denen er gespielt hat, hat kein einziges (!) überlebt. Auf die Frage, ob diese kleinen Kinder mitbekommen hätten, was in Auschwitz passierte, antwortet er: „Ich glaube nicht. Wir haben ihnen in den letzten Monaten ihres 66 Lebens eine Märchenwelt aufgebaut.“ (Interview mit P. Stränsky vom 27.12. 2002). Sehr wohl wußten aber die älteren Kinder, was in Auschwitz-Birkenau geschah. Den Erziehern war es aber verboten, gewisse Wörter wie Selektion, Gas, Kamin, Tod u.a. zu verwenden. Die Situation dieser Pädagogen ist wahrlich kaum nachvollziehbar: Unterricht, Erziehung im Wissen, daß die Kinder nur noch wenige Monate zu leben haben! Verstehbar ist deshalb Pavel Stränskys Vorsatz nach der Befreiung: „Ich weiß, es ist töricht, aber ich wollte vergessen, ich wollte alles vergessen.“ (P. Stränsky, 27.12. 2002). Aber gegen das Vergessen ist der Roman von Ota B. Kraus geschrieben. Erstmals erschien dieser 1993 in der tschechischen Übersetzung Pavel Stränskys, kurz danach im englischen Original in Israel. Kraus’ Wunsch war es, seinen Roman noch in deutschen Übersetzung zu sehen. Dieser Wunsch wurde ihm zu Lebzeiten nicht erfüllt, er starb 2000 in Netanya in Israel. Mehr als eine Ergänzung zu dem hervorragenden und vielschichtigen Roman Kraus’ ist der Lebensbericht Pavel Stränskys, der auch die Liebes- und Lebensgeschichte mit seiner leider vor einigen Jahren verstorbenen Frau Vera erzählt. Stränsky war mit ihr gemeinsam von Prag nach Theresienstadt deportiert worden, dann mit seiner Frau im Theresienstädter Familienlager, wurde dort bei der Selektion im Juli 1944 von ihr getrennt und fand sie nach der Befreiung der Tschechoslowakei als Überlebende von Bergen-Belsen wieder. Lucie Ondrichoväs Biographie von Fredy Hirsch ist ebenfalls eine fundierte Ergänzung zu Kraus’ Roman. Allerdings hätte man diesem Buch ein sorgfältigeres Lektorat, um etwa falsche Jahreszahlen zu vermeiden, und eine etwas gekonntere Übersetzung gewünscht. Alle drei Bücher sind wichtige Beiträge, und, hier zitiere ich aus Pavel Stränskys Nachwort zu Kraus’ Roman, „ein bedeutender Mosaikstein des Auschwitz-Puzzles, das nie vollendet werden kann“. Martin Krist Ota B. Kraus: Die bemalte Wand. Roman. Aus dem Englischen von Jutta R. Witthoefft. Mit einem Nachwort von Pavel Stränsky. Köln: Dittrich Verlag 2002. 298 S. Pavel Stränsky: Als Boten der Opfer. Von Theresienstadt nach Theresienstadt mit „Übergangsaufenthalt“ in Auschwitz-Birkenau und Schwarzheide. Prag: Selbstverlag 2002. 82 5. (Dieses Buch ist eine Neuauflage des bereits 1997 bei Hartung-Gorre in Konstanz, erschienenen, aber vergriffenen Textes.) Lucie Ondrichova: Fredy Hirsch. Von Aachen über Düsseldorf und Frankfurt am Main durch Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau. Eine jüdische Biographie 1916 — 1944. Aus dem Tschechischen von Astrid Prackatzsch. Konstanz: Hartung-Gorre 2000. 104 S. Dramaturgisches Inszenieren Eine Biographie über Leopold Lindtberg „Alles in Szene setzen, nur sich selber nicht“, der Titel des Buches — ein Lindtberg-Zitat — klingt wie eine Streitschrift wider gegenwärtige Tendenzen am Theater. Das war sicher nicht die alleinige Intention der Arbeit, obwohl die Autorin für solche Lesart viel Material bereitstellt. Dies zeigt sich gleich an den Kapitelüberschriften, die ebenfalls Lindtberg-Texten entnommen sind, sie lauten zum Beispiel: „Entwicklung eines Stils, rein aus der Notwendigkeit von Ort und Zeit“ oder „Kann man der Theorie entraten? — Nein!“ Der Lesart als Streitschrift, ich komme darauf zurück, widerspricht allerdings der ruhige Gang des Berichts, mit dem Leben und Werk des Regisseurs Leopold Lindtberg präsentiert werden. Das Unruhige und Beunruhigende liegt in den historischen Dokumenten, die die Autorin zurückhaltend kommentiert, aber in einer Weise, die manch tradiertes Klischee über Lindtberg widerlegt. Erstmals konnte der Nachlaß von Leopold Lindtberg ausgewertet werden. Nicole Metzger ist eine hervorragende Biographie über einen Theatermann gelungen, der zu den bedeutendsten Vertretern des Exiltheaters zählt, und dem, auch das kann man dem Buch entnehmen, die Erfahrung von Verfolgung und Exil stets gegenwärtig blieb. Als Werner Krauß, Parteigänger der Nazis, Protagonist des natio nalsozialistischen „Jud Süß“-Films und Shylock der antisemitischen Burgtheater-Inszenierung von 1943, im Jahr 1948 wieder ans Burgtheater geholt wurde, war Lindtberg einer der wenigen, der, allerdings vergeblich, in Briefen an Josef Gielen und Egon Hilbert dagegen Stellung nahm und von einer verlogenen Versöhnlichkeit nichts wissen wollte. Sein schlichter Vorschlag, Werner Krauß möge sich doch endlich öffentlich vom Nationalsozialismus distanzieren, fand kein Gehör. Leopold Lindtberg, der nach 1945 in Österreich — mit Unterbrechungen - zu einem vielbeschäftigten Regisseur wurde, kam nur mehr zur Arbeit in seine Geburtsstadt Wien, eine dauerhafte Rückkehr lehnte er ab. Die Gründe liegen in Begebnissen der gerade geschilderten Art, die sich fortsetzten, etwa als der antisemitische Publizist Alexander Witeschnik an die Wiener Staatsoper berufen wurde und Lindtberg in einem Brief Ernst Haeusserman vergeblich seine Unterstützung für etwaige Proteste anbot. Lindtberg, dessen schriftstellerische Begabung neu zu entdecken das Buch von Nicole Metzger fördert, nahm wiederholt zur Verfolgung der Juden Stellung. In seinen „Gedanken über das Burgtheater“ erinnerte er an den Schauspieler und Schauspiellehrer Ernst Arndt, der im KZ-Theresienstadt umgekommen war: „Es ist in Wien nicht üblich, über derlei Ereignisse laut zu sprechen [...] da ich in all den Jahren, die ich am Burgtheater verbracht habe, nicht ein einziges Mal über