OCR
sind, sondern sich gegenseitig beleuchten, Spannung und Atmosphäre aneinander weitergeben, ein wohlkomponiertes Geflecht. K.K. Holm Kirsten, Wulf Kirsten (Hg. im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora): Stimmen aus Buchenwald. Ein Lesebuch. Göttingen: Wallstein 2002. 336 S. Euro 15,50/SFr 27,30 Flucht aus Rumänien nach Ungarn Sara Tuvel Bernstein war keine professionelle Schriftstellerin, dennoch hat sie ein Buch über ihr Leben verfaßt, das sich nicht nur mit ihrem Überleben des KZs Ravensbrück auseinandersetzt, sondern auch von ihrer Kindheit in Rumänien und der Zeit nach dem Krieg berichtet, als sie in den USA eine neue Heimat gefunden hatte. Daß jemand, der etwas zu sagen hat, dies auch ausdrücken kann, demonstriert Sara Tuvel Bernstein auf eindrucksvolle Weise. „Erste Vorbereitungen für das Manuskript traf meine Mutter Anfang der 80er, vermutlich 1981. Sie schrieb einen kurzen Entwurf, an dem sie sich orientieren wollte, und während sie abends in ihrem Nähzimmer arbeitete, sprach sie verschiedene Abschnitte dieses Entwurfs auf Band“, erinnert sich Saras Tochter Marlene. Damals war ihre Mutter bereits über 60 Jahre alt. Nach Saras Tod im Jahre 1983 bewirkte ihre Tochter die Veröffentlichung des Manuskriptes, denn es ist in der Tat ein unvergängliches Zeugnis. Sara Tuvel wurde 1918 in einem Dorf in Rumänien geboren, der Vater war Leiter eines Sägewerkes, zum zweiten Mal verheiratet, hatte er neun Kinder. Eine scheinbare Idylle, hätte es nicht immer wieder antisemitische Anfeindungen gegeben. Mit acht Jahren gestattet die Mutter, daß Sara zur Schule gehen durfte. Über dem Katheder des Klassenzimmers hing ein Kruzifix. „Warum haben sie da einen toten Mann hingehängt, den wir ständig ansehen müssen?“ fragte sich das Mädchen und litt unter den Schikanen des katholischen Religionslehrers. Äußerst begabt und wißbegierig, wollte Sara lernen. Obwohl ein Mädchen, noch dazu ein jüdisches, was peinlichst verschwiegen wurde, gewann sie ein Stipendium für das Gymnasium in Bukarest. Der Vater war strikt dagegen, jedoch Sara setzte ihren Willen durch, verließ das Elternhaus und fuhr nach Bukarest. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Religionslehrer schmiß sie Schule und Ausbildung hin und begann eine Lehre als Näherin. Als der Weltkrieg ausbrach, war Sara 21. In Rumänien wuchs die Angst, zumal Freundinnen und Bekannte von der Eisernen Garde, den rumänischen Faschisten, auf der Straße verhaftet wurden und verschwanden. Die Möglichkeit, nach Palästina auszuwan68 dern, schlug Sara aus, um nicht gänzlich von ihrer Familie getrennt zu werden. Im Sommer 1940 mußte Rumänien Bessarabien und die nördliche Bukowina an die Sowjetunion, drei Fünftel von Siebenbürgen an Ungarn abtreten. Saras Elternhaus war mit einem Schlag ausländisches Territorium. „Das Dorf Valea Uzului blieb Teil Rumäniens, das Sägewerk in den Bergen aber gehörte zu dem Landstrich, der an Ungarn ging, und die neue Grenze verlief dazwischen. Meine Familie war zwischen zwei Nationen gefangen, die einander spinnefeind waren. Die Rumänen dachten, daß Rußland und Ungarn ihnen das Land stahlen -die Ungarn dachten, daß sie lediglich das Land zurück erhielten, das sie im Ersten Weltkrieg verloren hatten. Und die Juden wurden der Sündenbock für all diesen Haß.“ Mit ihren blonden Haaren und blauen Augen wiegte Sara sich einigermaßen in Sicherheit. „Ich wußte, daß jeder Jude ohne weitere Angabe von Gründen verfolgt werden konnte.“ Als Sara zu ihren Eltern auf Besuch kam, wurden sie und ihr Vater verhaftet. Verhöre und Folter; die Juden mußten Straßen kehren und Klosetts putzen. Während Sara entlassen wurde, blieb ihr Vater in Haft und wurde umgebracht. Sie sah ein Schild, auf dem in großen roten Buchstaben stand: „Koscheres Fleisch zu verkaufen.“ Dahinter hingen an Fleischerhaken die Leichen von jüdischen Männern, schief und mit zur Seite hängenden Köpfen, die Arme schlaff gegen die Oberschenkel schaukelnd. Sara ging nach Budapest, wo sie sich sicherer fühlte. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Esther arbeitete sie als Näherin. Mehr oder weniger unbehelligt konnten sie zwar ihrer Arbeit nachgehen. Eine von Saras Kundinnen, für die sie nähte, eine assimilierte Jüdin, war von ihren eigenen Kindern denunziert worden, nicht durch einen blöden Zufall, sondern wissentlich. Saras jüngste Schwester Zipporah war schwanger und wollte abtreiben. Sara begleitete sie in einen noblen Budapester Vorort, wo der Eingriff stattfinden sollte. „Juden haben hier nichts zu suchen!“ Sie wurden verhaftet und sogleich in ein Arbeitslager gebracht. Als Zipporahs Schwangerschaft auffiel, mußte sie aus der Marschformation treten und wurde erschossen. Sara war Augenzeuge. „Was bedeutet dir dieses Miststück?“ fragte Zipporahs Mörder, als sie die tote Schwester in ihren Armen hielt. „Sie hätte sich nicht schwängern lassen sollen, die Hure.“ Eines Tages wurde den Frauen mitgeteilt, daß die Arbeit beendet sei und sie wieder frei seien. Jedoch die Freiheit währte nicht lange. Die Juden mußten unter der Herrschaft der „Pfeilkreuzler“ den gelben Stern tragen. Als Zwangsarbeiterinnen huben die Frauen im Juli 1944 Panzergräben aus. Täglich starben Dutzende. Die Leichen wurden einfach liegen gelassen. Sara gelang es, mit ihrer Schwester Esther, ihren Freundinnen Ellen und Lily, der Tochter ihrer Hauswirtin, zusammen zu bleiben, nicht nur im Arbeitslager, sondern auch im KZ Ravensbrück. Besaßen sie im Arbeitslager wenigstens noch ihre warme Kleidung, mußten die Frauen bei ihrer Ankunft in Ravensbrück alles abgeben. Im Angesicht eines Leichenberges hatte Sara beschlossen, ihre ganze Kraft aufzubieten, um sich nicht unterkriegen zu lassen. Ihr Wille zum Leben sowie das Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den vier Frauen ließ drei von ihnen das Konzentrationslager überleben. „Die übrigen Frauen blieben jedoch Fremde. Mich mit ihnen anzufreunden, hätte bedeutet, mir Sorgen um sie zu machen und sie zu betrauern, wenn sie gestorben wären.“ Sara als die älteste und die am praktischesten veranlagte hatte für sich und die drei anderen einige Regeln festgesetzt, nämlich selbst bei größtem Durst kein Wasser zu trinken, von dem sie nicht wußten, ob es verseucht war; oder stets die obersten Schlafplätze zu wählen, wo es wärmer war als auf den unteren Pritschen. „An manchen Morgen standen wir noch beim Appell, wenn der große, offene Lastwagen kam, um die Leichenhaufen ins Krematorium zu bringen... Wenn die Wärterinnen die Leichen aufhoben und eine nach der anderen auf die Ladefläche warfen, schrie hin und wieder eine von ihnen auf oder griff mit der Hand in die Luft. Einige lebten also noch! Doch die SS kannte keine Kranken. Entweder man stand auf und ging zur Arbeit — dann war man am Leben. Oder man stand nicht auf — dann war man tot.“ Nach Kriegsende wurden die Überlebenden von Nonnen gepflegt und wieder aufgepäppelt. Sara lernte ihren späteren Mann kennen, der das KZ Auschwitz überlebt hatte. Sie heirateten und wollten Deutschland verlassen, denn der Antisemitismus war nach wie vor existent, etwa wenn Sara nach stundenlangem Schlangestehen an die Reihe kam, hieß es: „Das Fleisch ist aus.“ Oder: „Butter ist gerade ausgegangen.“ Als sich 1949 die Gelegenheit ergab, nach Kanada auszuwandern, nahmen Sara und ihr Mann diese Chance wahr. Schließlich übersiedelten sie in die USA, wo auch Esther und Ellen mit ihren Familien leben. Einige von Saras Brüdern und Vettern waren nach Israel emigriert. Nach mehr als dreißig Jahren konnte Sara ihre Verwandten bei einem Besuch in Israel wiedersehen. Ein Rezensent sollte zwar keine Emotionen zeigen, jedoch im diesem außergewöhnlichem Fall sei es gestattet: Ich habe aus Saras Lebensbericht — so schrecklich er auch ist — Kraft geschöpft und erfahren, daß Überleben nicht zuletzt Willenssache ist. Dieser Frau gebührt meine Bewunderung. Manfred Chobot Sara Tuvel Bernstein: Die Näherin. Erinnerungen einer Überlebenden. Aus dem Amerikanischen von Annette Hahn. Mit einem Vorwort von Edgar M. Bronfman. München, Wien: Europaverlag 1998. 448 S.