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Vor fünfzig Jahren, am 24. September 1953, ist der Lyriker, Essayist, Theater- und Filmregisseur Berthold Viertel in Wien gestorben. Er war einer von nicht allzu vielen, die aus dem Exil nach 1945 nach Österreich zurückgekehrt sind. Und auch ihm wurde es nicht leicht gemacht. Am Burgtheater blieb er immer bloß Gastregisseur und eine Wohnung wurde ihm, dessen Vater in Wien noch drei Häuser besessen hatte, erst gar nicht angeboten: Er war ja jetzt ,Amerikaner’. In der Presse wurde er mit antisemitischen Untertönen als ein Ausländer angegriffen, der den bewährten heimischen Kräften zu wenige gute Rollen anbiete. Der nach langen Exiljahren ‚heimgekommene’ Viertel spürte, was die Daheimgebliebenen nicht zu spüren vermochten. Als ich, nach langjähriger Abwesenheit, nach zwanzig Jahren vertrauten Umgangs mit dem amerikanischen und englischen Theater und Film, im Jahre 1947 die deutschsprachigen Klassikervorstellungen ... besuchte, wurde ich eines neuen Tons gewahr, der mich erschreckte und entmutigte. Was sich hier herauskristallisiert und offenbar eingebürgert hatte, war eine seltsame Mischung: eine wurzellose Ekstase oder eine kalt prunkende Rhetorik, die das Offizielle, Repräsentative der Darstellung betonte und überbetonte, in jäher Abwechslung mit einer sich ins allzu Leise, Private und Unterprivate flüchtenden Diskretion. Manie und Depression folgten einander ohne Übergang und ohne Zwischentöne. „Reichskanzleistil“ benannte Viertel 1950 das ihn befremdende Phänomen, anspielend auf das von den Nationalsozialisten errichtete, von alliierten Bomben zerstörte Regierungsgebäude in Berlin, wo die Übermenschlichkeit der Zugänge nicht in einen mykenischen Tempel, sondern in eine biedere Innenausstattung führte. Die Polarisierung zwischen dem Übermenschlich-Heroischen und dem Kleinmenschlich-Biederen war ein Resultat nationalsozialistischer Herrschaft. Nicht aus dem Theater war der ,,Reichskanzleistil“ ins Leben gedrungen, sondern aus dem entstellten Leben in die Kultur. „Und die Folge war“, schreibt Viertel, „eine Verarmung der Ausdrucksmöglichkeiten, geistig, und der Ausdrucksmittel, technisch genommen.“ Statt die Mitwirkung der Exilierten und Verfolgten zu suchen, ihrem Blick standzuhalten und vielleicht auch von ihnen zu lernen, zog man es jahrzehntelang vor, im eigenen Saft zu schmoren, andernorts zur Reputation Gelangtes fallweise zu importieren und die großen Fragen, die mit Auschwitz, mit dem Exil, mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu tun hatten, den Betroffenen zu überlassen, den Opferverbänden der Verfolgten, den jüdischen Kultusgemeinden, den Angehörigen und Nachfahren. Diese großen Fragen wurden nie als zentrale Fragen und ungelöste Probleme der Kultur eines Landes wie Österreich angesehen. Ihnen wird auch heute noch in den Kultur- und Wissenschaftskonzepten der politischen Parteien kaum Augenmerk geschenkt. Wir haben schon oft darauf hingewiesen, daß die landläufigen Mahnungen vor den Schrecken der sogenannten Vergangenheit stets nur auf eine inhaltlose Distanzierung von jenem Vergangenen hinausliefen, auf eine kollektiv beschworene Abscheu vor dem Geschehenen und daher eher auf Tabuisierung, als auf Aufklärung. Das Tabu ist eine Aufklärung ohne Aufgeklärte, ein Ritual der Vermeidung. Dem Wunsch nach einer subjektlosen Aufgeklärtheit entspricht die geringe Achtung, ja das Mißtrauen für kontinuierliche Bemühungen, sich mit der „Vergangenheit“ (die nicht vergangen ist) auseinanderzusetzen. In den letzten 20 Jahren hat sich gegen viele Widerstände durch das große persönliche Engagement der Forscherinnen und Forscher in Österreich eine breit gefächerte Exilforschung entwickelt. Der heuer erschienene Sammelband „Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung“ (hg. von Evelyn Adunka und Peter Roessler) gibt darüber gediegene Auskunft. Um ihre akademische Anerkennung zu erreichen, eine Öffentlichkeit und Kommunikationsplattform für ihre Forschungsergebnisse zu schaffen, haben die österreichischen ExilforscherInnen im Vorjahr die Österreichische Gesellschaft für Exilforschung (ÖGE) gegründet. Diese hat große Ziele und rauft, vorläufig noch, um das Minimum. Gerade dieser Tage erreicht uns ein Hilfeschrei des Vereins Orpheus Trust — Herausgeber der ZW-Beilage mit dem schönen Titel Orpheus in der Zwischenwelt. Der Verein, der in den letzten Jahren nicht nur Musik aus dem Exil in groBem Stil wieder zugänglich gemacht, sondern auch die Erforschung des Musikexils maßgeblich vorangetrieben hat, kann seine Tätigkeit unter den gegebenen Umständen nicht oder nur mit äußerster Einschränkung fortsetzen. Gespart wird überall, aber nicht überall. Für kulturelle und wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Exilkultur, die an die Grenzen unseres Wissens gehen und an den Schranken unserer Kultur rütteln, muß ganz einfach mehr Geld zur Verfügung gestellt werden. Seit Platon hat das Wort Akademie manchen Bedeutungswandel erfahren, ehe es fast zum Synonym für eine Ansammlung sich wechselseitig lobpreisender Herren wurde. So waren in den nach dem Wiener Kongreß dem Kaiserreich Österreich einverleibten italienischen Städten Akademien die kulturellen Zentren eines meist zugleich demokratischen und nationalen Widerstandes der gebildeten Kreise gegen die Fremdherrschaft. Die Geheimpolizisten Metternichs witterten hier allenthalben Verschwörung gegen die legitime Herrschaft, und hinter den feinen, blassen Gesichtern der Apotheker, Kaufleute und Gelehrten, die sich zu Vorträgen, Dichterlesungen, Konzerten oder bloß zur Benützung der Bibliothek zusammenfanden, zeichneten sich in den Berichten nach Wien die rußgeschwärzten Züge der Carbonari-Verschwörer ab. Eine neue Facette wird nun dem alten Wort hinzugefügt. In der Wiener Akademie des Exils, die in diesem Herbst mit vier Vorlesungen beginnt, geht es um Aneignung, um Kenntnisnahme des Exils, seiner Geschichte, seines Elends und seiner Erfolge, Schicksale und Leistungen. Parallel dazu thematisierst die FrauenAG der ÖGE in einer Vortragsreihe Fremdheit, Alltag und Sprache im Exil. Im Grunde verfolgen die in diesem Heft zum Schwerpunkt Album der schönen Unbekannten gesammelten Aufsätze (einige von ihnen werden noch im nächsten Heft, das einen Jean Améry-Schwerpunkt haben wird, nachgetragen) dieselbe Intention: Aneignung statt Klage; uns interessiert nicht der Tod, sondern das reiche, erfüllte, zerrissene Leben und die Verse und Töne auch, die Teil dieses Lebens waren und von ihm zeugen. Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser