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Viertens wird, wie die oben zitierte Stelle zeigt, die wirtschaftlich-technische Zurückgebliebenheit und machtpolitische Bedeutungslosigkeit Österreichs ins Treffen geführt. Österreich wird mit einem Frosch verglichen, der sich aufplustert. In dieser abschließenden Wendung spürt man am ehesten noch die Erinnerung an große deutsche Geschichte als eine Folie, von der sich die „Alpenrepublik“ in ihrer ganzen Kleinlichkeit abzeichnet. Die Gemeinschaftsaktionen der Gruppe, bei denen bekanntermaßen unter anderem die Zertrümmerung eines Klaviers auf offener Bühne einen Sturm der Entrüstung erregte, fanden 1959/60 ein allmähliches Ende; die Mitglieder der Gruppe gingen fortan mehr ihre eigenen Wege. Die Wiener Gruppe hat für die österreichische Nachkriegsliteratur eine prägende Macht gewonnen, und nicht nur eine Friederike Mayröcker, ein Ernst Jandl, eine Elfriede Gerstl und ein Andreas Okopenko sind von ihr, salopp gesagt, beeinflußt, auch der ganze Wiener Aktionismus von Brus bis Nitsch verdankt ihr viel, bis hin zu den Autoren der Grazer Zeitschrift manuskripte wie Wolfgang Bauer, Peter Handke und Gerhard Roth. Bemerkenswert jedoch ist die in allen Manifestationen der Wiener Gruppe (im engeren Sinn) zu registrierende fast vollständige Anästhesie, Empfindungslosigkeit gegenüber dem unter der Herrschaft der Nationalsozialisten erst wenige Jahre zuvor Geschehenen, gegenüber der Vertreibung und Deportierung von mehr als zehn Prozent der Wiener Bevölkerung, gegenüber Arisierung, Ausgrenzung, Massenmord. Die gedemütigten, verfolgten, exilierten Juden kommen thematisch-stofflich in den Texten der Wiener Gruppe einfach nicht vor; in dieser Literatur sind sie wie vom Erdboden verschwunden, von den „Zigeunern“ und den Euthanasieopfern der Nationalsozialisten ganz zu schweigen. Diese trockene Feststellung trägt natürlich nichts zur immanenten Interpretation der literarischen Texte bei; sie sagt ganz banal, was diese Texte nicht enthalten. In Anbetracht des nicht bloß Episodischen des Nationalsozialismus, der historischen Katastrophe, die er darstellt, des tiefen kulturellen Bruchs, den er verursachte, und des Ausmaßes der im Nationalsozialismus verübten Verbrechen ist die völlige Ausblendung der NS-Zeit in den Texten der Wiener Gruppe ein bestimmtes Nicht-Dasein, eine Abwesenheit, die in den Texten für mich gegenwärtig ist. Rezipiert wird die NS-Zeit von dem Gruppenchronisten Rühm mit den weitverbreiteten Floskeln von „vielen Jahren gewaltsamer Absperrung“, nach denen es wieder Anschluß an das zu finden galt, „was sich inzwischen draußen getan hatte‘ in der „bisher verfemte(n) modernen Kultur.’ Die Rekapitulation der Moderne vollzog sich indes nicht als Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur, etwa der des Exils und des antifaschistischen Widerstands, sondern im Rückgriff auf eine von Gérard de Nerval, Charles Baudelaire zu Georg Trakl, Expressionismus, Surrealismus und Dadaismus aufsteigende Linie, also auf eine im nachhinein konstruierte Kette avantgardistischer Manifestationen, deren letztes Glied schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert geschmiedet worden war. Es scheint, als hätte die österreichische Nachkriegsavantgarde eine direkte Verbindung, eine unmittelbaren Anknüpfung an die Avantgardebewegungen der Periode von etwa 1890 bis 1920 gesucht, um eine Linie weiterzuziehen, die unterbrochen war durch ein antimodernes, restauratives Intermezzo von einigen Jahren. Diese kulturgeschichtliche Selbstpositionierung ist für die ganze Österreichische Avantgarde bis hin zu einem Oswald Oberhuber charakteristisch; sie erscheint ihren Adepten fast als eine Selbstverständlichkeit, über der sie die Spezifika solcher Wiederanknüpfung nicht wahrnehmen. Ein Spezifikum dieser Wiederanknüfung ist, abgesehen von ihrer hier nur angedeuteten historischen Vertracktheit, in dem Mißtrauen gegenüber dem überlieferten ästhetischen Material und dem damit eng verbundenen Streben nach einer möglichst direkten, unmittelbaren Wirkung des „poetischen acts“ (wie Artmann es in seiner ,,acht-punkte-deklaration“ 1958 nannte®) zu sehen. Wenden wir uns zunächst dem Moment der unmittelbaren Wirksamkeit zu. Rühm schreibt: „der schock wird als unmittelbarster eindruck bewußt in die kunst eingeführt. ‚eindruckskultur’ statt ‚ausdruckskultur’, das heißt das psychologische wird nicht beschrieben oder ausgedrückt, sondern im hinblick auf den konsumenten, sozusagen als dimension, kalkuliert.“” „Schock“ ist ein zentraler Begriff der Literatur über die Avantgarde-Bewegungen nach 1900, ob bei Walter Benjamin oder Peter Bürger, der ihn als die Intention eines unmittelbaren Wirksamwerdens der Kunst auf Leben und Lebensgestaltung faßt.° Das heißt, die Kunst, der künstlerische Akt durchschlägt die traditionellen, überlieferten kulturellen Vermittlungen, in die er eingesponnen scheint wie in einen Kokon. Er tritt aus diesem Reich der Kontemplation, des Kennertums, des Ästhetizismus hinüber ins Leben, nicht als Botschaft, sondern als Handlung. Die überlieferte, ausgestaltete Kultur ist aber nicht nur das Lorgnon und der Operngucker, die sich der Kunstkenner oder Musikliebhaber vor die Nasen halten, sondern ist im vorgefundenen ästhetischen Material selbst präsent. So entspringt der Ankampf der Schönberg-Schule gegen die Irrationalität des musikalischen Materials der Intention einer neuen, unmittelbaren Wirksamkeit der Kunst auf den Rezipienten, zielt auf den direkten Rapport zwischen der Kunst und dem Innenleben des Rezipienten. So zielt auch Kandinsky mit der Ausschaltung der konventionell-mimetischen Bezüge der Malerei auf die Entwicklung von Formen, die im Betrachter in direkter Korrespondenz „Seelenbewegungen auszulösen vermögen“.’ Die Diachronie zwischen dem Kunstwerk und dem Rezipienten, die komplizierte Vermittlung des künstlerischen Gehalts auf dem Wege von Zerstreuung und konzentrierter Kontemplation, in der sich der Rezipient, im Wahrnehmen des Unterschieds zwischen innerer und äußerer Bewegung, immer von neuem als Ich setzt, soll aufgehoben werden. (Die vollständige Aufhebung der das Ich konstituierenden Diachronie wird dann, viel später, in Oswald Wieners Vorstellung eines Bioadapters allegorisiert.') Roger Bauer zitiert in seiner Apologie der Wiener Gruppe Gerhard Rühm: „der surrealismus ... hat die nicht unwesentliche tatsache übersehen, daß der dialekt in unserem ... unterbewußten eine eminente Rolle spielt.‘ Und Bauer kommentiert die Bemerkung Rühms mit den Worten: „Als aller Zwänge freie, unmittelbare sprachliche Ausdrucksform wäre also der Dialekt in besonderem Maße fähig und in der Lage, tiefste Eindrücke und Bewegungen der Seele wiederzugeben.‘'' Wobei Bauer die Sache insofern mißversteht, als er unterstellt, es wäre hier um ein Wiedergeben und nicht vielmehr um ein Auslösen „tiefster Bewegungen der Seele“ zu tun. Die Einheit von Streben nach direkter Wirkung und Mißtrauen gegenüber dem überlieferten ästhetischen Material kommt schlagend in dem Zitat Rühms zum Ausdruck: „das hierarchische prinzip des satzes wurde zuerst einmal aufgegeben, um die wörter, der fixierung auf aussagen entbunden, wieder zu gleichberechtigten elementen aufzuwerten. [...] die trennung von inhalt und form ist hinfällig: etwas anders gesetzt, bedeutet etwas ande