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res. eine ‚lautkonstellation’ enthält (wie die musik) nur materiale bezeichnungen, nämlich lautliche.‘"? Hier ist also, wie bei Kandinsky für die Malerei", für die Literatur eine Erneuerung nach dem Vorgang oder Vorbild der Musik gefordert. Dies knüpft zwar an die historische Avantgarde an, aber doch an einen spezifischen Strang — die Parallelen zwischen den Ausführungen Rühms und den Ideen Kandinskys ließen sich auch noch in anderen Punkten zeigen. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang und in der weiteren Folge, daß sich in Österreich in der Avantgardeliteratur die fixe Vorstellung etabliert, der Subjekt-Prädikat-Satz mit seiner Subsumption des Prädikats unter das Subjekt sei eine reale Bewegungsform - nicht bloß ein möglicher Ausdruck - jener Machtverhältnisse, von denen sich Literatur radikal und konsequent zu lösen habe. Im Innenraum des künstlerischen Gebildes sieht sich der Autor fremdem Einfluß und Urteil ausgesetzt; die Sprache selbst erscheint als fremdbestimmt, heteronom und nicht autonom. (Nun könnte man fragen, ob sich in der Eliminierung des Widerstands, den das ästhetische Material bietet, nicht bloß die uneingeschränkte Alleinherrschaft des Autors über seinen Text darstellen dürfte.) Das Mißtrauen, die Skepsis auch gegen das überkommene ästhetische Material diagnostiziert in diesem die Anwesenheit der Macht, wobei Macht allemal als ein Lebens- und Kunstfeindliches, aus dem gewöhnlichen Leben nicht Herausgewachsenes, sondern ihm entgegengesetztes Distanziertes ist. Die historische Lücke der Avantgarde, der Nationalsozialismus und die ganze Epoche des Ringens mit ihm, kehrt hier in der Abstraktion der Macht schlechthin, der gewissermaßen für alle Zeiten eine Absage zu erteilen ist, wieder. Was in solcher Abstraktion untergeht, ist die Verbindung mit dem konkreten Leid und Geschehen einer Epoche, die implizit als Vergangenheit gesetzt ist, während die Gegenwart als der Ort des Neuanfangens einer vormals unterbrochenen Bewegung der modernen Kunst begriffen ist. Beliebige Distanzierbarkeit Canettis „Masse und Macht“ steht allerdings in wesentlicher Differenz zu den Bestrebungen der Wiener Gruppe. Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Katastrophe ist für Canettis zwanzigjährige Beschäftigung mit dem Komplex konstitutiv: „Die äußeren Zustände der Welt luden jedem denkenden Menschen eine quälende Verantwortung auf. Mit jedem Jahr schien die Lösung der Aufgabe dringlicher.“'* Ungeachtet der apodiktischen Suggestivität seiner Satzbildung oder gerade dadurch zielt Canetti keineswegs auf eine unmittelbare, direkte Wirkung auf das Gemüt seines Lesers, seiner Leserin, eher legt er seine Vision der Sache in einer möglichst kompakten Form dar, unter weitestgehendem Verzicht auf diskursive Überzeugungsrhetorik. Dem Rezipienten ist es anheimgestellt, seine Schlußfolgerungen zu ziehen. Man könnte geradezu sagen, Canetti vertraue dem vorhandenen ästhetischen Material, der überkommenen Sprachform und bilde sie gemäß seinen künstlerischen Bedürfnissen um. Wenn er sich in Fliegenpein auf seine geistigen Heroen bezieht, so nennt er Jonathan Swift, Georg Büchner und William Blake — eine ganz andere Tradition der Moderne, ein ganz anderer Strang oder Faden als der, den die Wiener Gruppe herausgezogen hat. Bei ihm prozessiert die Dialektik von Inhalt und Form, die Rühm für stillgestellt verkündete, weiter. Canetti distanziert die Macht, aber er enthumanisiert sie nicht völlig. Macht bleibt daher im Bereich der künstlerischen Gestaltung und ist kein feindliches Jenseits der Kunst. In vielfältiger Weise blieb die Wiener Gruppe ihrerseits in den Resultaten des vom Nationalsozialismus geschaffenen Weltzustandes befangen, insbesondere in der Hinnahme des Umstandes, daß die Juden wie vom Erdboden verschwunden schienen (eine für die Nachkriegsära typische Verarbeitung oder — besser gesagt — Verdrangungsleistung), dariiber hinaus aber auch in der spezifischen Anästhesie und Empfindungslosikgeit gegenüber kaum vergangenem Leid. Diese Anästhesie ist eine Folge der realen Enthumanisierung, die unter der NS-Herrschaft Realität geworden war. Die Wiener Gruppe bietet kein Beispiel und kein Leitbild für die bewußte Anstrengung, die erforderlich war und ist, um sich der stillen Komplizenschaft mit dem durch den Nationalsozialismus geschaffenen Weltzustand zu widersetzen. Ballt sich bei Canetti die Macht, um mein Bild wieder aufzugreifen, zur schwarzen Sonne, verblaßt sie in den Texten der Wiener Gruppe zur Abstraktion. Aus der Distanzierung der Macht, die Canetti voraussetzte, wird ihre beliebige Distanzierbarkeit. Der Aufsatz beruht auf einem beim „Kulturanthropologisch-philosophischen Canetti-Symposion Macht und Gewalt“ (Leitung John D. Pattillo-Hess und Mario R. Smole) im November 2002 gehaltenen Vortrag unter dem Titel „Elias Canettis Konzeption der Macht und die Manifestationen der Wiener Gruppe“. Die Ergebnisse des Symposions werden im Herbst 2003 im Löcker Verlag, Wien, publiziert. Anmerkungen 1 Elias Canetti: Masse und Macht. Franktfurt/M. 1980, 227. 2 Masse und Macht, 529. 3 Die Wiener Gruppe. Achleitner. Artmann. Bayer. Rühm. Wiener. Texte. Gemeinschaftsarbeiten. Aktionen. Hg. und mit einem Vorwort von Gerhard Rühm. Reinbek 1967, 19 f. 4 Vgl. Renate Göllner: Mythos Neuanfang. Klaus Briegleb über den Antisemitismus der Gruppe 47. In: ZW Nr. 1/2003, 4. Die Wiener Gruppe, 7. Zitiert nach: Die Wiener Gruppe, 10. Die Wiener Gruppe, 13 f. Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M. 1982. Vgl. dazu und im Folgenden: Leander Kaiser: Kandinsky, die Musik und Madame Blavatsky. In: ZW Nr. 1/2002, 13-16. 10 Vgl. Oswald Wiener: Die Verbesserung von Mitteleuropa. Reinbek 1969. 11 Roger Bauer: Laßt sie koaxen, die kritischen Frösch’ in Preußen und Sachsen. Zwei Jahrhunderte Literatur in Österreich. Wien 1977, 229, 12 Die Wiener Gruppe, 14 f. 13 Vgl. L. Kaiser, wie oben. 14 Zitiert nach: Joachim Schickel: Aspekte der Masse, Elemente der Macht. Versuch über Elias Canetti. In: Text + Kritik (München) Nr. 28, November 1973, 15. vonaı Wir machen aufmerksam auf die Homepage unseres Mitarbeiters Leander Kaiser: http://www.leanderkaiser.com Inhalte u.a. Symposium Von der Romantik zur ästhetischen Religion, neue Projekte und Bilder Leander Kaisers.