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zuständigen französischen Staatssekretär Lemaire im Einvernehmen mit dem Außenministerium zurückgezogen. Proteste auf beiden Seiten des Rheins waren die Folge; sie führten schließlich dazu, daß Nuit et brouillard am 29. April doch noch in Cannes gezeigt wurde, jedoch „außer Konkurrenz“. In Frankreich meldeten sich Jean Cayrol und andere Persönlichkeiten des kulturellen und politischen Lebens zu Wort, ebenso die Organisationen der Widerstandskämpfer und Deportierten. In der deutschen Presse stieß das Vorgehen der Botschaft auf einhellige Ablehnung; entschiedener Protest kam auch von dem Autor Paul Schallück, der zugleich im Namen seiner „Freunde und Schriftstellerkollegen Heinrich Böll, Hans Werner Richter, Erich Kuby, Walter Dirks, Alfred Andersch, Eugen Kogon, Hans Georg Brenner, Ernst Kreuder, Wolfgang Hildesheimer und vieler anderer mehr“ sprach (NDR, 16.4.56). Der Einspruch der Botschaft, meinte die Neue Zürcher Zeitung am 8.8. 1956, sei „einer überängstlichen und jedenfalls schwer verständlichen Sorge entsprungen“, und die Deutsche Tagespost in Würzburg zitierte am 2.6. neben anderen ausnahmslos kritischen Stimmen auch die Londoner Times: „Es ist schwer, etwas anderes als Zorn denjenigen gegenüber zu empfinden, die diese feierliche und schreckliche Elegie zurückzogen.“ „Wenn irgendwo“, formulierte der Korrespondent des Kölner Stadt-Anzeigers, der den Film in Cannes „inmitten von ehemals Deportierten und Misshandelten“ sah, am 4.7. 1956 den entscheidenden Einwand gegen die deutsche Intervention mit großer Klarheit und Entschiedenheit, „so hätte es hier zu einer antideutschen Demonstration kommen müssen. Man hätte es sogar kaum übelnehmen können. Aber nichts dergleichen geschah. Die französischen Besucher machten nicht den Fehler, den ihnen die Bundesrepublik Deutschland eigentlich empfohlen hatte, als sie durch den Protest die Darstellung der Greueltaten des Dritten Reiches als aktuellen Vorwurf gegen Deutschland überhaupt betrachtete.“ Lediglich ein Kommentator des NDR pflichtete der Absetzung am 21.1. 1957 bei, freilich mit einer abwegigen Begründung: „Kann man sich vorstellen, dass dieser Film vor einem Publikum gezeigt wird, das kurz zuvor noch über die erfolgversprechenden Reize italienischer oder amerikanischer Sexbomben diskutiert hat?“ Die Berufung auf das Statut der Festspiele, nach dem keine Filme gezeigt werden sollen, die geeignet sind, die nationalen Gefühle eines teilnehmenden Landes zu verletzen, erwies sich freilich als Bumerang. Denn aus dem gleichen Grund wurde nun in der Folge auch der einzige deutsche Beitrag, Helmut Käutners „Himmel ohne Sterne“, von der Festspielleitung offiziell abgesetzt, nachdem sich die deutsche Delegation geweigert hatte, wie Frankreich und auch Großbritannien dies in vergleichbaren Fällen getan hatten, ihn freiwillig zurückzuziehen: „Haust du meinen Film, hau’ ich deinen Film“, kommentierte Friedrich Luft in der Süddeutschen Zeitung vom 7.5. 1956 und gab, wie andere Hintergrundberichte auch, als Begründung für den Wunsch nach der Zurücknahme des Films an, „die Figur eines jungen Sowjetsoldaten, der einer Arbeiterin aus Mitteldeutschland zur Flucht in die Bundesrepublik verhelfen wollte, könne Mißstimmung und Ärgernis bei ‚anderen Teilnehmern’ des Festivals erregen“; eine Mutmaßung, die von der sowjetischen Delegation, die gemeint war, jedoch sogleich dementiert wurde. Die deutsche Delegation reiste unter Protest ab: Man „reagierte mit dem Holzhammer ... tat wieder das Äußerste“, kommentierte Luft diese Abreise „mit Aplomb“; ebenso urteilte die Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung bereits am 30.4. 1956: „Wir haben wieder einmal prächtig danebengehauen.“ „In Cannes abgesetzt, in Bonn gezeigt“, überschrieb der Bonner General-Anzeiger am 2.7. 1956 seinen Beitrag. In Bonn wurde der Film nämlich am 29.6. gezeigt, auf Initiative der Europäischen Zeitung, dem Organ der deutschen Sektion der europäischen Bewegung der Jugend, und vor einem geschlossenen Kreis, der sich aus in- und ausländischen Pressevertretern, Mitgliedern des Bundestages, Beamten und Angestellten der Ministerien und mehrheitlich aus Studenten zusammensetzte. „Es sollte ein Experiment sein“, so der General-Anzeiger weiter, „dessen Ergebnis eventuell darüber entscheiden wird, ob man diesen Film öffentlich in deutschen Lichtspieltheatern vorführen wird“. An die 700 geladenen Gäste wurden Fragebögen verteilt, die, wie Le Monde am 1.8.56 ausführlich berichtete, danach forschten, ob der Film als objektiv oder tendenziös und antideutsch empfunden werde; ob die Erinnerung an die Naziverbrechen dringend notwendig, überflüssig oder schädlich sei; ob der Film einen heilsamen Schock auslöse, die Zuschauer gleichgültig lasse oder abstoße; und schließlich, ob er möglichst vielen zugänglich gemacht werden solle, nur ausgewählten Kreisen oder überhaupt nicht. 412 Zuschauer füllten ihren Bogen aus und gaben ihn am Ende der Vorstellung ab. Von ihnen waren 4,37 % unter 20 Jahre alt, 48,30 % zwischen 20 und 30, 21,11 % zwischen 30 und 40, 12,38 % zwischen 40 und 50 und 13,84 % über 50 Jahre alt. 376 der 412 Zuschauer hielten den Film für objektiv und gerecht; 14 empfanden ihn als tendenziös und sieben als antideutsch. 347 Zuschauer hielten es für dringlich, ihn in Deutschland zu zeigen, 40 für unnütz und neun für schädlich. 222 glaubten, dass er in Deutschland begrüßt würde, 41 an eine zurückhaltende, 38 an eine gleichgültige Aufnahme, 37 an Ablehnung. 263 Zuschauer sprachen sich für eine weite Verbreitung des Films aus, 106 für eine eingeschränkte; lediglich elf waren gegen jede Vorführung. Je älter die Zuschauer, bemerkt der Beitrag zusammenfassend, desto ablehnender oder feindseliger waren die Bemerkungen, zu denen der Fragebogen zusätzlich aufforderte. Weitere Aufführungen vor geladenem Publikum folgten, die Berichte darüber stimmen überein: überfüllte Säle in Berlin, in Hamburg, München, Düsseldorf und Hannover. Erschütterung, tiefe Bewegung — die „Zuschauer saßen wie erstarrt“: „Man wird diesen Film nie vergessen. Jeder sollte ihn sich ansehen“, so die Rhein-Neckar-Zeitung am 12.2. 1957. Das in Cannes zerschlagene Porzellan, die einmütige Reaktion der Öffentlichkeit und das klare Ergebnis der Bonner Umfrage verfehlten ihre Wirkung nicht. Bereits am 9.5. 1956 berichtete die Frankfurter Allgemeine, „Bonner Kreise bemühen sich zur Zeit um den Ankauf der Vorführungsrechte“. Und am 11.7. 1956 ergreift der CDU-Bundestagsabgeordnete Paul Bausch aus dem Wahlkreis Böblingen, Vorsitzender des Ausschusses für Presse, Film und Rundfunk, die erlösende Initiative: Unter der Überschrift „Politisch wertvoller Film“ meldet die Frankfurter Neue Presse in einem Telephonbericht ihres Korrespondenten am folgenden Tag, Nacht und Nebel sei nach Bauschs Auffassung „so gut und politisch wertvoll, dass er möglichst breiten Schichten unseres Volkes gezeigt werden sollte. Aus diesem Grunde hat Bausch bei der Bundeszentrale für Heimatdienst den Antrag gestellt, den Film synchronisieren zu lassen und die dazu nötigen Mittel bereitzustellen. Ferner soll die Bundeszentrale für Heimatdienst veranlassen, dass der Film auch allen Beamten der Bundesverwaltung gezeigt und den Jugendverbänden und den Filmdiensten kostenlos zur Verfügung gestellt wird.“