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der jüdischen Kultur verankerten Menschen vor. Er wünschte sich säkularisierte Juden, verwurzelt in der kulturellen Tradition des jüdischen Volkes, mit dem Zugehörigkeitsgefühl zu Erez Israel, zur hebräischen Sprache, zu den Geschichtsmythen und zu den Feiertagen. Während säkularisierte Juden diese als nationale Werte pflegen, werden religiöse Juden dies aus religiösen Gründen tun. Diese Formel machte es auch den nicht praktizierenden Juden möglich, ihre jüdische Identität zu wahren. Ahad Ha’am hat der alten jüdischen Kultur neue, nationale Kleider angezogen. Micha Josef Berdyczewski, (1865 — 1921), der von einem „neuen Menschen“ träumte, der Nietzscheaner war und Nietzsche als erster ins Hebräische übersetzte, wollte sich nicht mit der Entfernung Gottes begnügen, sondern eine allgemeine Änderung der Werte erreichen. Seiner Meinung nach sollte man das bestehende Gleichgewicht zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen, zwischen dem Buch und dem Leben ändern. Der neue Jude sollte seine Vorbilder in der Zeit vor Zerstörung des Tempels und der staatlichen Existenz suchen. Juden sollten ein Volk wie andere Völker werden. Ahad Ha’am wollte die historische Kontinuität bewahren und auf die in der Diaspora geschaffene Kultur bauen. Berdyczewski hingegen berief sich darauf, daß jaauch Ahad Ha’am nicht die Halacha, das jüdische religiöse Gesetz, als ganze bewahren wollte, sondern sich die Teile aussuchte, die seiner Meinung nach bewahrungswürdig waren. Berdyczewski hingegen wollte mit der jüdischen Lehre und der Kontinuität der Diaspora brechen. Er wollte eine neue Identität der Juden in Erez Israel, die durch die jüdische Lehre während 2000 Jahre Diaspora deformiert wurde. Während Ahad Ha’am den westlichen Einfluß auf die Juden hemmen wollte, trat Berdyczewski für die totale Öffnung zur westlichen Kultur ein. Berdyczewskis Schüler, der Schriftsteller Josef Chaim Brenner‘, interessierte sich nicht für jüdische Werte, sondern für jüdische Menschen. Alles was Juden produzierten, erkannte er als jüdische Kultur an. Er leugnete, daß es spezifische „jüdische Eigenschaften‘ gäbe, seiner Meinung nach stellten die Juden ihre Schwäche in der Diaspora so dar, als ob das eine moralische Wahl wäre, in Wirklichkeit -— meinte Brenner — wären die Juden nicht anders als alle anderen Menschen, nicht besser und nicht schlechter. In das Land Israel, oder Erez Israel (Palästina war der Name, der von den Römern und dann erst wieder von der britischen Mandatsverwaltung gebraucht wurde) kamen fünf Einwanderungswellen. Im Hebräischen spricht man nicht von Einwanderung, sondern vom Aufstieg, von Aliya. Die erste Aliya war präzionistisch und religiös, die zweite Aliya setzte schon vor dem Ersten Weltkrieg ein und war eine bewußt sozialistische. Die bedeutendsten Führer der zionistischen Arbeiterbewegung wie David Ben Gurion kamen mit ihr in das Land. Viele von ihnen waren von Berdyczewski und vom Voluntarismus der russischen narodniki genauso beeinflußt wie von der russischen Literatur und dem revolutionären Geist der russischen Intelligenz. Doch sie begnügten sich nicht mit diesen Ideen, sie wollten diesen Sozialismus — der nicht auf Zwang sondern auf Freiwilligkeit gründete - in Erez Israel verankern. Der „neue Mensch“ sollte in erster Linie die Gesellschaft vorwärts bringen und er sollte physische Arbeit verrichten. Es gab eine regelrechte Religion der Arbeit, beeinflußt von dem Philosophen Aharon David Gordon’, der zwar streng genommen kein Sozialist war, selbst bei der Gründung von Deganja mitwirkte, der ersten kollektiven Siedlung (1909), und der nach dem 12 Ersten Weltkrieg dort lebte und 1922 starb. Doch damit nicht genug, der neue Jude sollte sich auch selbst verteidigen. Diese Selbstverteidigung hatte bereits in Russland begonnen, wo 1882 das Pogrom von Kishinew stattfand. Hier entstand die „Hagana“, die dann in Erez Israel ganz andere Dimensionen annahm. Eine persönliche Geschichte Bereits in Budapest, in der zionistischen Jugendbewegung, war es uns klar, daß wir in einem Kibbuz leben wollten. Wir sahen darin eine ideale sozialistische Lebensform, in der jeder nach seiner Fähigkeit arbeitete und nach seinen Bedürfnissen versorgt wurde. Das waren die Ideale. Trotzdem war meine Ankunft im Kibbuz natürlich ein radikaler Bruch mit meinen bisherigen Lebensgewohnheiten. Obwohl ich schon in Budapest als Lehrling physisch gearbeitet hatte, war das nichts im Vergleich zu der physischen Arbeit, die ich im Kibbuz kennenlernte. Hier wurde ein unterentwickelter Junge - ich war noch keine fünfzehn, sah aber aufgrund der schlechten Ernährung in Europa wie ein Dreizehnjähriger aus — sofort zu schwerster landwirtschaftlicher Arbeit gezwungen. Für mich war das eine sehr harte Erfahrung, da ich wenig erfolgreich war. Im Winter 1943 mußten wir um fünf Uhr früh aufstehen. Es war kalt, die Hände wurden klamm, und wir hätten sie am liebsten wieder in unsere Taschen gesteckt. Aber wir waren im sozialistischen Wettbewerb und mußten Orangen pflücken. Mir war diese Arbeit verhaßt, und da ich zu den Kleinsten und Schwächsten gehörte, fühlte ich sehr bald, gescheitert zu sein. Unsere aus vier Jungen und zwei Mädchen bestehende Gruppe kam aus Ungarn, und man hat uns zunächst im „ungarischen“ Kibbuz Maabarot zwischen Tel Aviv und Haifa untergebracht. Das Mittelmeer war ganz nahe, und an manchem Sabbat gingen wir an langen, damals noch einsamen Sandstränden baden. Nach fast einem halben Jahr mußten wir in den Kibbuz Schaar Haamakim, nicht weit von Haifa, übersiedeln, wo wir eine Gruppe der Jugendalyia bilden sollten mit Jugendlichen, die im Frühjahr 1943 aus Rumänien und Jugoslawien eingewandert waren. Wir waren dreißig Jugendliche aus mehreren Ländern und hatten keine gemeinsame Sprache, so blieb uns gar nichts anderes übrig, als fleißig Hebräisch zu lernen. Die meisten Felder des Kibbuz Schaar Haamakim lagen ca. eine Stunde Fahrt mit dem Pferdewagen entfernt in der Bucht von Haifa. Im Frühjahr mußten wir Mais auszupfen und im Herbst Mais pflücken. Diese Arbeit war außerordentlich schwer. Wir waren klein und der Mais war hoch. Wir hatten uns mit Petroleum beschmiert gegen die lästigen kleinen Stechfliegen, die „Barchatsch‘“, aber das nützte nicht sehr viel, diese mochten unser frisches Blut. Oft haben wir uns beim Maispflücken die Hände aufgerissen. Meistens gab es noch als Draufgabe Chamsin, eine aus den östlichen Wüsten kommende Hitze. Nie werde ich das Gefühl vergessen, als letzter mit einem in Kanada vor ein paar Jahren verstorbenen Freund mit einem Sack voller Maiskolben angelangt zu sein, nachdem schon alle anderen „ihre“ Reihe abgeerntet hatten. Das machte mir die landwirtschaftliche Arbeit verhaßt. Das war mein Problem, denn die anderen, die größer und stärker waren, haben das nicht so empfunden. Nach getaner Arbeit am Vormittag besuchten wir am Nachmittag die Schule, in einer Baracke mit einem Blechdach. Manchmal hatte es 40 Grad Hitze